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Full text of "Das Versprechen Friedrich Dürrenmatt (pdf Boek)"

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Friedrich Dürrenmatt: 
Das Versprechen 
Roman 


Friedrich 

Dürrenmatt 



Das 

Versprechen 

Requiem auf den 
Kriminalroman 


s&c by AnyBody 


Eigentlich sollte sich Kriminalkommissar Matthäi, der auf der Höhe seiner 
Karriere angelangt ist, zum Flug nach Jordanien fertigmachen, um dort ein 
ehrenvolles Amt zu übernehmen. Da erreicht ihn ein Anruf aus Mägendorf, 
einem kleinen Ort in der Nähe von Zürich: ein ihm bekannter Hausierer teilt 
ihm mit, er habe im Wald die Leiche eines Mädchens, von einem bislang 
unbekannten Verbrecher grausam verstümmelt, gefunden. Matthäis Abflug 
ist in drei Tagen fällig, doch er fährt nach Mägendorf und verspricht den 
Eltern des Kindes »bei seiner Seligkeit« nicht zu rasten, bis er den Täter 
entlarvt hat. Die Dorfbewohner freilich halten den Hausierer von Gunten für 
den Täter. Nur mit Mühe kann Matthäi ihn in letzter Sekunde vor der 
Lynchjustiz retten - aber nicht vor dem Zugriff seiner Kollegen, die den Fall 
einfach, sauber und schnell lösen möchten 


ISBN 3-423-01390-7 


Ungekürzte Ausgabe 1. Auflage Oktober 1978 
8. Auflage Dezember 1983: 196. bis 225. Tausend Deutscher Taschenbuch 

Verlag GmbH & Co. KG, München 





Das Buch 

»Dürrenmatt, dem es nicht darum geht, längst schematisierte 
Kriminalromane zu schreiben, schafft den kriminellen Rahmen, 
um dem Leser gefällig zu sein, und macht ihn zum 
umfassenden parodistischen Romanstilmittel. Ihm geht es um 
das Verbrechen an sich, um die verbrecherische Anlage als 
klinisch-soziologisches Problem, das keineswegs nur 
kleinbürgerlich-hintertreppige Früchte zu zeitigen braucht, 
sondern welterschütternde Auswirkungen haben kann.« 

Der Autor 

Friedrich Dürrenmatt, geb. am 5. 1. 1921 in Konolfingen bei 
Bern als Sohn eines Pfarrers. Studium der Theologie und 
Philosophie in Bern und Zürich. Zeichner, Graphiker und 
Illustrator. 1951-53 Theaterkritiker der >Weltwoche< (Zürich), 
freier Schriftsteller in Neuchatel. 1967-69 künstlerischer 
Berater, Direktionsmitglied und Regisseur am Basler 
Stadttheater. 1970-72 Berater am Schauspielhaus Zürich. 1969 
Mitherausgeber und Miteigentümer der Wochenzeitung 
>Sonntagsjournal. Zürcher Woche<. Einer breiten Öffentlichkeit 
wurde Dürrenmatt als Erzähler, Hörspieldichter und Dramatiker 
bekannt. Innerhalb seiner prosaischen Arbeiten schuf er neben 
heiteren Werken eine besondere, in der deutschsprachigen 
Literatur sonst kaum bekannte, von Poe und Chesterton 
beeinflußte Art des doppelbödigen Kriminalromans. 


Im März dieses Jahres hatte ich vor der Andreas-Dahinden- 
Gesellschaft in Chur über die Kunst, Kriminalromane zu 
schreiben, einen Vortrag zu halten. Ich traf mit dem Zug erst 
beim Einnachten ein, bei tiefliegenden Wolken und tristem 
Schneegestöber, dazu war alles vereist. Die Veranstaltung fand 
im Saale des Kaufmännischen Vereins statt. Publikum war nur 
spärlich vorhanden, da gleichzeitig in der Aula des 
Gymnasiums Emil Staiger über den späten Goethe las. Weder 
ich noch sonst jemand kam in Stimmung, und mehrere 
Einheimische verließen den Saal, bevor ich den Vortrag 
beendet hatte. Nach einem kurzen Zusammensein mit einigen 
Mitgliedern des Vorstandes, mit zwei, drei Gymnasiallehrern, 
die auch lieber beim späten Goethe gewesen wären, sowie 
einer wohltätigen Dame, die den Verband der Ost¬ 
schweizerischen Hausangestellten ehrenhalber betreute, zog 
ich mich nach quittiertem Honorar und Reisespesen ins Hotel 
Steinbock nahe beim Bahnhof zurück, wo man mich logiert 
hatte. Doch auch hier Trostlosigkeit. Außer einer deutschen 
Wirtschaftszeitung und einer alten Weltwoche war keine 
Lektüre aufzutreiben, die Stille des Hotels unmenschlich, an 
Schlaf nicht zu denken, weil die Angst hochkam, dann nicht 
mehr zu erwachen. Die Nacht zeitlos, gespenstisch. Draußen 
hatte es zu schneien aufgehört, alles war ohne Bewegung, die 
Straßenlampen schwankten nicht mehr, kein Windstoß, kein 
Churer, kein Tier, nichts, nur vom Bahnhof her hallte es einmal 
himmelweit. Ich ging zur Bar, um noch einen Whisky zu trinken. 
Außer der älteren Bardame fand ich dort noch einen Herrn, der 
sich mir vorstellte, kaum daß ich Platz genommen hatte. Es war 
Dr. H., der ehemalige Kommandant der Kantonspolizei Zürich, 
ein großer und schwerer Mann, altmodisch, mit einer goldenen 
Uhrkette quer über der Weste, wie man dies heute nur noch 
selten sieht. Trotz seines Alters waren seine borstigen Haare 
noch schwarz, der Schnurrbart buschig. Er saß an der Bar auf 
einem der hohen Stühle, trank Rotwein, rauchte eine Bahianos 
und redete die Bardame mit Vornamen an. Seine Stimme war 
laut und seine Gesten waren lebhaft, ein unzimperlicher 
Mensch, der mich gleicherweise anzog wie abschreckte. Als es 
schon gegen drei ging und zum ersten Johnnie Walker vier 


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weitere gekommen waren, erbot er sich, mich am nächsten 
Morgen mit seinem Opel Kapitän nach Zürich zu schaffen. Da 
ich die Gegend um Chur und überhaupt diesen Teil der 
Schweiz nur flüchtig kannte, nahm ich die Einladung an. Dr. H. 
war als Mitglied einer eidgenössischen Kommission nach 
Graubünden gekommen und hatte, da ihn das Wetter an der 
Rückfahrt hinderte, ebenfalls meinen Vortrag besucht, ließ sich 
jedoch nicht darüber aus, nur daß er einmal meinte: »Sie tragen 
ziemlich ungeschickt vor.« Am nächsten Morgen machten wir 
uns auf den Weg. Ich hatte in der Dämmerung - um noch etwas 
schlafen zu können - zwei Medomin genommen und war wie 
gelähmt. Es war immer noch nicht recht hell, obgleich schon 
lange Tag. Irgendwo glänzte ein Stück metallener Himmel. 
Sonst schoben sich nur Wolken dahin, lastend, träge, noch voll 
Schnee; der Winter schien diesen Teil des Landes nicht 
verlassen zu wollen. Die Stadt war von Bergen eingekesselt, 
die jedoch nichts Majestätisches aufwiesen, sondern eher 
Erdaufschüttungen glichen, als wäre ein unermeßliches Grab 
ausgehoben worden. Chur selbst offenbar steinig, grau, mit 
großen Verwaltungsgebäuden. Es kam mir unglaubhaft vor, 
daß hier Wein wuchs. Wir versuchten, in die Altstadt 
einzudringen, doch verirrte sich der schwere Wagen, wir 
gerieten in enge Sackgassen und Einbahnstraßen, schwierige 
Rückzugsmanöver waren nötig, um aus dem Gewirr der Häuser 
hinauszukommen; dazu war das Pflaster vereist, so daß wir 
froh waren, die Stadt endlich hinter uns zu wissen, obgleich ich 
nun eigentlich nichts von diesem alten Bischofssitz gesehen 
hatte. Es war wie eine Flucht. Ich döste vor mich hin, bleiern 
und müde; schattenhaft schob sich in den tiefliegenden Wolken 
ein verschneites Tal an uns vorbei, starr vor Kälte. Ich weiß 
nicht, wie lange. Dann fuhren wir gegen ein größeres Dorf, 
vielleicht Städtchen, vorsichtig, bis auf einmal alles in der 
Sonne lag, in einem so mächtigen und blendenden Licht, daß 
die Schneeflächen zu tauen anfingen. Ein weißer Bodennebel 
stieg auf, der sich merkwürdig über den Schneefeldern 
ausmachte und mir den Anblick des Tales aufs neue entzog. Es 
ging wie in einem bösen Traume zu, wie verhext, als sollte ich 
dieses Land, diese Berge nie kennenlernen. 


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Wieder kam die Müdigkeit, dazu das unangenehme Geprassel 
von Kies, mit dem man die Straße bestreut hatte; auch gerieten 
wir bei einer Brücke leicht ins Rutschen; dann ein 
Militärtransport; die Scheibe wurde so schmutzig, daß die 
Wischer sie nicht mehr reinigen konnten. H. saß mürrisch 
neben mir am Steuer, in sich versunken, auf die schwierige 
Straße konzentriert. Ich bereute, die Einladung angenommen 
zu haben, verwünschte den Whisky und das Medomin. Doch 
nach und nach wurde es besser. Das Tal war wieder sichtbar, 
auch menschlicher. Überall Höfe, hie und da kleine Industrien, 
alles reinlich und karg, die Straße nun ohne Schnee und Eis, 
nur glänzend vor Nässe, doch sicher, so daß eine anständigere 
Geschwindigkeit möglich wurde. Die Berge hatten Platz 
gemacht, beengten nicht mehr, und bei einer Tankstelle hielten 
wir. 

Das Haus machte gleich einen sonderbaren Eindruck, vielleicht 
weil es sich von seiner properen schweizerischen Umgebung 
abhob. Es war erbärmlich, troff von Nässe; Bäche flössen an 
ihm nieder. Zur Hälfte war das Haus aus Stein, zur Hälfte eine 
Scheune, deren Holzwand längs der Straße mit Plakaten 
beklebt war, seit langem offenbar, denn es hatten sich ganze 
Schichten übereinandergeklebter Plakate gebildet: Burrus 
Tabake auch in modernen Pfeifen, trink Canada Dry, Sport 
Mint, Vitamine, Lindt Milchschokolade usw. An der Breitwand 
stand riesenhaft: Pneu Pirelli. Die beiden Tanksäulen befanden 
sich vor der steinernen Hälfte des Hauses auf einem unebenen, 
schlecht gepflasterten Platz; alles machte einen verkommenen 
Eindruck, trotz der Sonne, die jetzt beinahe stechend, bösartig 
schien. 

»Steigen wir aus«, sagte der ehemalige Kommandant, und ich 
gehorchte, ohne zu begreifen, was er vorhatte, doch froh, an 
die frische Luft zu kommen. 

Neben der offenen Haustüre saß ein alter Mann auf einer 
Steinbank. Er war unrasiert und ungewaschen, trug einen 
hellen Kittel, der schmuddelig und verfleckt war, und dazu 
dunkle, speckig schimmernde Hosen, die einmal zu einem 
Smoking gehört hatten. An den Füßen alte Pantoffeln. Er stierte 


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vor sich hin, verblödet, und ich roch schon von weitem den 
Schnaps. Absinth. Um die Steinbank herum war das Pflaster 
mit Zigarrenstummeln bedeckt, die im Schmelzwasser 
schwammen. 

»Grüß Gott«, sagte der Kommandant auf einmal verlegen, wie 
mir schien. »Füllen Sie bitte auf. Super. Und reinigen Sie auch 
die Scheiben.« Dann wandte er sich zu mir. »Gehen wir 
hinein.« 

Erst jetzt bemerkte ich über dem einzigen sichtbaren Fenster 
ein Wirtshausschild, eine rote Blechscheibe, und über der Türe 
war zu lesen: Zur Rose. Wir betraten einen schmutzigen 
Korridor. Gestank von Schnaps und Bier. Der Kommandant 
ging voran, öffnete eine Holztüre, offenbar kannte er sich aus. 
Die Gaststube war armselig und dunkel, einige rohe Tische und 
Bänke, an den Wänden Filmstars, aus Illustrierten 
herausgeschnitten und an die Mauer geklebt; der 
österreichische Rundfunk gab einen Marktbericht für Tirol 
durch, und hinter der Theke stand kaum erkennbar eine hagere 
Frau. Sie trug einen Morgenrock, rauchte eine Zigarette und 
spülte die Gläser. 

»Zwei Kaffee-Creme«, bestellte der Kommandant. 

Die Frau begann zu hantieren, und aus dem Nebenzimmer kam 
eine schlampige Kellnerin, die ich auf etwa dreißig schätzte. 

»Sie ist sechzehn«, brummte der Kommandant. 

Das Mädchen servierte. Es trug einen schwarzen Rock und 
eine weiße, halb offene Bluse, unter der es nichts anhatte; die 
Haut war ungewaschen. Die Haare waren blond wie wohl auch 
einmal die der Frau hinter der Theke und ungekämmt. 

»Danke, Annemarie«, sagte der Kommandant und legte das 
Geld auf den Tisch. Auch das Mädchen antwortete nicht, 
bedankte sich nicht einmal. Wir tranken schweigend. Der 
Kaffee war entsetzlich. Der Kommandant zündete sich eine 
Bahianos an. Der österreichische Rundfunk war zum 
Wasserstand übergewechselt und das Mädchen ins 
Nebenzimmer gelatscht, in welchem wir etwas Weißliches 
schimmern sahen, offenbar ein ungemachtes Bett. 


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»Gehen wir«, nneinte der Konnnnandant. 

Draußen zahlte er nach einem Blick auf die Tanksäule. Der Alte 
hatte Benzin nachgefüllt und auch die Scheiben gereinigt. 

»Das nächste Mal«, sagte der Kommandant zum Abschied, und 
wieder fiel mir seine Hilflosigkeit auf; doch antwortete der Alte 
auch jetzt nichts, sondern saß schon wieder auf seiner Bank 
und stierte vor sich hin, verblödet, erloschen. Als wir aber den 
Opel Kapitän erreicht hatten und uns noch einmal umwandten, 
ballte der Alte seine Hände zu Fäusten, schüttelte sie und 
flüsterte, die Worte ruckweise hervorstoßend, das Gesicht 
verklärt von einem unermeßlichen Glauben: »Ich warte, ich 
warte, er wird kommen, er wird kommen.« 

Um ehrlich zu sein, begann Dr. H. später, als wir uns 
anschickten, über den Kerenzerpaß zu kommen - die Straße 
war aufs neue vereist, und unter uns lag der Walensee, 
gleißend, kalt, abweisend; auch hatte sich die bleierne 
Müdigkeit des Medomins wieder eingestellt, die Erinnerung an 
den Rauchgeschmack des Whiskys, das Gefühl, in einem 
Traum endlos sinnlos dahinzugleiten - um ehrlich zu sein, ich 
habe nie viel von Kriminalromanen gehalten und bedaure, daß 
auch Sie sich damit abgeben. Zeitverschwendung. Was Sie 
gestern in Ihrem Vortrag ausführten, läßt sich zwar hören; seit 
die Politiker auf eine so sträfliche Weise versagen - und ich 
muß es ja wissen, bin selbst einer, Nationalrat, wie Ihnen 
bekannt sein dürfte [es war mir nicht bekannt, ich hörte seine 
Stimme wie von ferne, verschanzt hinter meiner Müdigkeit, 
doch aufmerksam wie ein Tier im Bau] - hoffen die Leute eben, 
daß wenigstens die Polizei die Welt zu ordnen verstehe, wenn 
ich mir auch keine lausigere Hoffnung vorstellen kann. Doch 
wird leider in all diesen Kriminalgeschichten ein noch ganz 
anderer Schwindel getrieben. Damit meine ich nicht einmal den 
Umstand, daß eure Verbrecher ihre Strafe finden. Denn dieses 
schöne Märchen ist wohl moralisch notwendig. Es gehört zu 
den staatserhaltenden Lügen, wie etwa auch der fromme 
Spruch, das Verbrechen lohne sich nicht - wobei man doch nur 
die menschliche Gesellschaft zu betrachten braucht, um die 
Wahrheit über diesen Punkt zu erfahren -, all dies will ich 


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durchgehen lassen, und sei es auch nur aus Geschäftsprinzip, 
denn jedes Publikum und jeder Steuerzahler hat ein Anrecht 
aufseine Helden und sein Happy-End, und dies zu liefern, sind 
wir von der Polizei und ihr von der Schriftstellerei gleicherweise 
verpflichtet. Nein, ich ärgere mich vielmehr über die Handlung 
in euren Romanen. Hier wird der Schwindel zu toll und zu 
unverschämt. Ihr baut eure Handlungen logisch auf; wie bei 
einem Schachspiel geht es zu, hier der Verbrecher, hier das 
Opfer, hier der Mitwisser, hier der Nutznießer; es genügt, daß 
der Detektiv die Regeln kennt und die Partie wiederholt, und 
schon hat er den Verbrecher gestellt, der Gerechtigkeit zum 
Siege verhelfen. Diese Fiktion macht mich wütend. Der 
Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen. Dabei, 
zugegeben, sind gerade wir von der Polizei gezwungen, 
ebenfalls logisch vorzugehen, wissenschaftlich; doch die 
Störfaktoren, die uns ins Spiel pfuschen, sind so häufig, daß 
allzu oft nur das reine Berufsglück und der Zufall zu unseren 
Gunsten entscheiden. Oder zu unseren Ungunsten. Doch in 
euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle, und wenn etwas 
nach Zufall aussieht, ist es gleich Schicksal und Fügung 
gewesen; die Wahrheit wird seit jeher von euch Schriftstellern 
den dramaturgischen Regeln zum Fräße hingeworfen. Schickt 
diese Regeln endlich zum Teufel. Ein Geschehen kann schon 
allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie 
alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, 
meistens recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, 
Unberechenbare, Inkommensurable eine zu große Rolle. 
Unsere Gesetze fußen nur auf Wahrscheinlichkeit, auf Statistik, 
nicht auf Kausalität, treffen nur im allgemeinen zu, nicht im 
besonderen. Der Einzelne steht außerhalb der Berechnung. 
Unsere kriminalistischen Mittel sind unzulänglich, und je mehr 
wir sie ausbauen, desto unzulänglicher werden sie im Grunde. 
Doch ihr von der Schriftstellerei kümmert euch nicht darum. Ihr 
versucht nicht, euch mit einer Realität herumzuschlagen, die 
sich uns immer wieder entzieht, sondern ihr stellt eine Welt auf, 
die zu bewältigen ist. Diese Welt mag vollkommen sein, 
möglich, aber sie ist eine Lüge. Laßt die Vollkommenheit 
fahren, wollt ihr weiterkommen, zu den Dingen, zu der 


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Wirklichkeit, wie es sich für Männer schickt, sonst bleibt ihr 
sitzen, mit nutzlosen Stilübungen beschäftigt. Doch nun zur 
Sache. 

Sie haben wohl diesen Morgen über Verschiedenes gestaunt. 
Vorerst über meine Rede, denke ich; ein ehemaliger 
Kommandant der Kantonspolizei Zürich sollte wohl 
gemäßigtere Ansichten pflegen, aber ich bin alt und mache mir 
nichts mehr vor. Ich weiß, wie fragwürdig wir alle dastehen, wie 
wenig wir vermögen, wie leicht wir uns irren, aber auch, daß wir 
eben trotzdem handeln müssen, selbst wenn wir Gefahr laufen, 
falsch zu handeln. 

Dann werden Sie sich auch gewundert haben, weshalb ich 
vorhin bei dieser erbärmlichen Tankstelle haltmachte, und ich 
will es Ihnen gleich gestehen: Das traurige, versoffene Wrack, 
das uns mit Benzin bediente, war mein fähigster Mann. Ich 
habe, weiß Gott, etwas von meinem Beruf verstanden, aber 
Matthäi war ein Genie, und das in einem größeren Maße als 
einer eurer Detektive. 

Die Geschichte hat sich vor nun bald neun Jahren ereignet, fuhr 
H. fort, nachdem er einen Lastwagen der Shell-Kompanie 
überholt hatte. Matthäi war einer meiner Kommissäre, oder 
besser, einer meiner Oberleutnants, denn wir führen bei der 
Kantonspolizei militärische Rangbezeichnungen. Er war Jurist 
wie ich. Er hatte als Basler in Basel doktoriert und wurde, zuerst 
in gewissen Kreisen, die mit ihm »beruflich« in Berührung 
kamen, dann aber auch bei uns »Matthäi am Letzten« genannt. 
Er war ein einsamer Mensch, stets sorgfältig gekleidet, 
unpersönlich, formell, beziehungslos, der weder rauchte noch 
trank, aber hart und unbarmherzig sein Metier beherrschte, 
ebenso verhaßt wie erfolgreich. Ich bin nie recht klug aus ihm 
geworden. Ich war wohl der einzige, der ihn mochte - weil ich 
klare Menschen überhaupt liebe, wenn mir auch seine 
Humorlosigkeit oft auf die Nerven ging. Sein Verstand war 
überragend, doch durch das allzu solide Gefüge unseres 
Landes gefühllos geworden. Er war ein Mann der Organisation, 
der den Polizei-Apparat wie einen Rechenschieber handhabte. 
Verheiratet war er nicht, sprach überhaupt nie von seinem 


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Privatleben und hatte wohl auch keines. Er hatte nichts im Kopf 
als seinen Beruf, den er als ein Kriminalist von Format, doch 
ohne Leidenschaft ausübte. So hartnäckig und unermüdlich er 
auch vorging, seine Tätigkeit schien ihn zu langweilen, bis er 
eben in einen Fall verwickelt wurde, der ihn plötzlich 
leidenschaftlich werden ließ. 

Dabei stand Dr. Matthäi gerade damals auf dem Höhepunkt 
seiner Karriere. Es hatte mit ihm beim Departement einige 
Schwierigkeiten gegeben. Der Regierungsrat mußte damals 
langsam an meine Pensionierung denken und somit auch an 
meinen Nachfolger. Eigentlich wäre nur Matthäi in Frage 
gekommen. Doch stellten sich der zukünftigen Wahl 
Hindernisse entgegen, die nicht zu übersehen waren. Nicht nur, 
daß er keiner Partei angehörte, auch die Mannschaft hätte wohl 
Schwierigkeiten gemacht. Anderseits bestanden aber oben 
wiederum Hemmungen, einen so tüchtigen Beamten zu 
übergehen; weshalb denn die Bitte des jordanischen Staates an 
die Eidgenossenschaft, nach Amman einen Fachmann zu 
schicken, mit dem Aufträge, die dortige Polizei zu 
reorganisieren, wie gerufen kam: Matthäi wurde von Zürich 
vorgeschlagen und sowohl von Bern als auch von Amman 
akzeptiert. Alles atmete erleichtert auf. Auch ihn freute die 
Wahl, nicht nur beruflich. Er war damals fünfzigjährig -etwas 
Wüstensonne tat gut; er freute sich auf die Abreise, auf den 
Flug über Alpen und Mittelmeer, dachte wohl überhaupt an 
einen endgültigen Abschied, deutete er doch an, daß er 
nachher zu seiner Schwester in Dänemark ziehen wolle, die 
dort als Witwe lebte - und war eben mit der Liquidierung seines 
Schreibtisches im Gebäude der Kantonspolizei in der 
Kasernenstraße beschäftigt, als der Anruf kam. 

Matthäi wurde nur mit Mühe aus dem verworrenen Bericht klug, 
setzte der Kommandant seine Erzählung fort. Es war einer 
seiner alten »Kunden«, der aus Mägendorf anrief, aus einem 
kleinen Nest in der Nähe von Zürich, ein Hausierer namens von 
Gunten. Matthäi hatte eigentlich keine Lust, sich noch an 
seinem letzten Nachmittag in der Kasernenstraße mit dem Fall 
zu befassen, war doch das Flugbillett schon gelöst und der 


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Abflug in drei Tagen fällig. Aber ich war abwesend, auf einer 
Konferenz der Polizeikommandanten, und erst gegen Abend 
aus Bern zurück zu erwarten. Richtiges Handeln war 
notwendig, Unerfahrenheit konnte alles vereiteln. Matthäi ließ 
sich mit dem Polizeiposten Mägendorf verbinden. Es war gegen 
Ende April, draußen rauschten Regengüsse nieder, der 
Föhnsturm hatte nun auch die Stadt erreicht, doch wich die 
unangenehme, bösartige Wärme nicht, welche die Menschen 
kaum atmen ließ. 

Der Polizist Riesen meldete sich. 

»Regnet es in Mägendorf auch?« fragte Matthäi vorerst 
unmutig, obgleich die Antwort zu erraten war, und sein Gesicht 
wurde noch düsterer. Dann gab er die Anweisung, den 
Hausierer im Hirschen unauffällig zu bewachen. 

Matthäi hängte auf. 

»Etwas passiert?« fragte Feiler neugierig, der seinem Chef 
beim Packen half. Es galt, eine ganze Bibliothek fortzuschaffen, 
die sich nach und nach angesammelt hatte. 

»Auch in Mägendorf regnet es«, antwortete der Kommissär, 
»alarmieren Sie das Überfallkommando.« 

»Mord?« 

»Regen ist eine Schweinerei«, murmelte Matthäi anstelle einer 
Antwort, gleichgültig gegen den beleidigten Feiler. 

Bevor er jedoch zum Staatsanwalt und zu Leutnant Henzi in 
den Wagen stieg, die ungeduldig warteten, blätterte er in von 
Guntens Akten. Der Mann war vorbestraft. Sittlichkeitsdelikt an 
einer Vierzehnjährigen. 

Doch schon der Befehl, dsn Hausierer zu überwachen, erwies 
sich als ein Fehler, der in keiner Weise vorauszusehen war. 
Mägendorf stellte ein kleines Gemeinwesen dar. Die meisten 
waren Bauern, wenn auch einige in den Fabriken unten im Tal 
arbeiteten oder in der nahen Ziegelei. Zwar gab es einige 
»Städter«, die hier draußen wohnten, zwei, drei Architekten, 
einen klassizistischen Bildhauer, doch spielten sie im Dorf keine 
Rolle. Alles kannte sich, und die meisten waren miteinander 


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verwandt. Mit der Stadt lag das Dorf inn Konflikt, wenn auch 
nicht offiziell, so doch heimlich; denn die Wälder, die Mägendorf 
umgaben, gehörten der Stadt, eine Tatsache, die kein richtiger 
Mägendorfer je zur Kenntnis genommen, was der 
Forstverwaltung einst viele Sorgen gemacht hatte. Sie war es 
denn gewesen, die vor Jahren für Mägendorf einen 
Polizeiposten gefordert und erlangt hatte, wozu noch der 
Umstand gekommen war, daß an den Sonntagen die Städter 
das Dörfchen in Strömen annektierten und der Hirschen auch 
nachts viele anlockte. Dies alles erwogen, mußte der 
stationierte Polizeimann sein Handwerk verstehen, doch war 
anderseits dem Dorfe menschlicherweise auch 
entgegenzukommen. Diese Einsicht war dem Polizeisoldaten 
Wegmüller, den man ins Dorf beorderte, bald aufgegangen. Er 
stammte aus einer Bauernfamilie, trank viel und hielt seine 
Mägendorfer souverän im Zaum, mit so vielen Konzessionen 
freilich, daß ich eigentlich hätte einschreiten sollen, doch sah 
ich in ihm - auch etwas durch den Personalmangel gezwungen 
- das kleinere Übel. Ich hatte Ruhe und ließ Wegmüller in Ruhe. 
Doch hatten seine Stellvertreter - wenn er in den Ferien war - 
nichts zu lachen. Sie machten in den Augen der Mägendorfer 
alles falsch. Wenn auch die Wildereien und Holzdiebstähle in 
den städtischen Forstgebieten und die Raufereien im Dorfe seit 
der Hochkonjunktur längst zur Legende gehörten, der 
traditionelle Trotz gegen die Staatsgewalt glomm unter der 
Bevölkerung weiter. Besonders Riesen hatte es diesmal 
schwer. Er war ein einfältiger Bursche, schnell beleidigt und 
humorlos, den ständigen Witzeleien der Mägendorfer nicht 
gewachsen und eigentlich auch für normale Gegenden zu 
sensibel. Er machte sich aus Furcht vor der Bevölkerung 
unsichtbar, hatte er die täglichen Dienstgänge und Kontrollen 
hinter sich gebracht. Unter diesen Umständen mußte es sich 
als unmöglich erweisen, den Hausierer unauffällig zu 
beobachten. Das Erscheinen des Polizisten im Hirschen, den er 
sonst ängstlich mied, kam von vornherein einer Staatsaktion 
gleich. Riesen setzte sich denn auch so demonstrativ dem 
Hausierer gegenüber, daß die Bauern neugierig verstummten. 
»Kaffee?« fragte der Wirt. 


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»Nichts«, antwortete der Polizist, »ich bin dienstlich hier.« 

Die Bauern starrten neugierig auf den Hausierer. 

»Was hat er denn gemacht?« fragte ein alter Mann. 

»Das geht Sie nichts an.« 

Die Gaststube war niedrig, verqualmt, eine Höhle aus Holz, die 
Wärme drückend, doch machte der Wirt kein Licht. Die Bauern 
saßen an einem langen Tisch, vielleicht vor Weißwein, vielleicht 
vor Bier, nur als Schatten vor den silbrigen Fensterscheiben 
sichtbar, an denen es niedertropfte, niederfloß. Irgendwo das 
Klappern von Tischfußball. Irgendwo das Klingeln und Rollen 
eines amerikanischen Spielautomaten. 

Von Gunten trank einen Kirsch. Er fürchtete sich. Er saß 
zusammengekauert im Winkel, den rechten Arm auf den 
Henkel seines Korbes gestützt, und wartete. Es schien ihm, als 
säße er schon stundenlang hier. Alles war dumpf und still, doch 
drohend. In den Fensterscheiben wurde es heller, der Regen 
ließ nach, und plötzlich war die Sonne wieder da. Nur der Wind 
heulte noch und rüttelte am Gemäuer. Von Gunten warfroh, als 
draußen endlich die Wagen vorfuhren. 

»Kommen Sie«, sagte Riesen und erhob sich. Die beiden traten 
hinaus. Vor der Wirtschaft warteten eine dunkle Limousine und 
der große Wagen des Überfallkommandos; die Sanität folgte. 
Der Dorfplatz lag in der grellen Sonne. Am Brunnen standen 
zwei Kinder, fünf- oder sechsjährig, ein Mädchen und ein Bub, 
das Mädchen mit einer Puppe unter dem Arm. Der Knabe mit 
einer kleinen Geißel. 

»Setzen Sie sich neben den Chauffeur, von Gunten!« rief 
Matthäi zum Fenster der Limousine hinaus, und dann, nachdem 
der Hausierer aufatmend, als wäre er nun in Sicherheit, Platz 
genommen und Riesen den andern Wagen bestiegen hatte: 
»So, nun zeigen Sie uns, was Sie im Walde gefunden haben.« 

Sie gingen durchs nasse Gras, da der Weg zum Walde ein 
einziger schlammiger Tümpel war, und umgaben kurz darauf 
den kleinen Leichnam, den sie zwischen Büschen, nicht weit 
vom Waldrand entfernt, im Laub fanden. Die Männer 
schwiegen. Von den tosenden Bäumen fielen immer noch 


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große silberne Tropfen, glitzerten wie Diamanten. Der 
Staatsanwalt warf die Brissago weg, trat verlegen darauf. Henzi 
wagte nicht hinzuschauen. Matthäi sagte: »Ein Polizeibeamter 
blickt nie weg, Henzi.« 

Die Männer bauten ihre Apparate auf. 

»Es wird schwierig sein, nach diesem Regen Spuren zu 
finden«, sagte Matthäi. 

Plötzlich standen der Bub und das Mädchen mitten unter den 
Männern, starrten hin, das Mädchen immer noch mit der Puppe 
im Arm und der Knabe immer noch mit seiner Geißel. 

»Führt die Kinder weg.« 

Ein Polizist brachte die beiden an der Hand auf die Straße 
zurück. Dort blieben die Kinderstehen. 

Vom Dorf her kamen die ersten Leute, der Hirschenwirt schon 
von weitem an der weißen Schürze erkennbar. 

»Sperrt ab«, befahl der Kommissär. Einige stellten Posten auf. 
Andere suchten die nächste Umgebung ab. Dann zuckten die 
ersten Blitzlichter. 

»Kennen Sie das Mädchen, Riesen?« 

»Nein, Herr Kommissär.« 

»Haben Sie es im Dorfe schon gesehen?« 

»Ich glaube, Herr Kommissär.« 

»Ist das Mädchen photographiert worden?« 

»Wir nehmen noch zwei Bilder von oben auf.« 

Matthäi wartete. 

»Spuren?« 

»Nichts. Alles verschlammt.« 

»Bei den Knöpfen nachgesehen? Fingerabdrücke?« 
»Aussichtslos nach diesem Wolkenbruch.« 

Dann bückte sich Matthäi vorsichtig. »Mit einem 
Rasiermesser«, stellte er fest, las das herumliegende Gebäck 
zusammen und tat es vorsichtig ins Körbchen zurück. 

»Brezeln.« 


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Es wurde gemeldet, einer vom Dorfe wolle sie sprechen. 
Matthäi stand auf. Der Staatsanwalt blickte zum Waldrand. Dort 
stand ein Mann mit weißen Haaren, einen Schirm über den 
linken Unterarm gehängt. Henzi lehnte sich an eine Buche. Er 
war bleich. Der Hausierer saß auf seinem Korb und beteuerte 
leise immer wieder: »Ganz zufällig bin ich vorbeigekommen, 
ganz zufällig!« 

»Bringen Sie den Mann her.« 

Der weißhaarige Mann kam durchs Gebüsch, erstarrte. 

»Mein Gott«, murmelte er nur, »mein Gott«. 

»Darf ich um Ihren Namen bitten?« fragte Matthäi. 

»Ich bin der Lehrer Luginbühl«, antwortete der weißhaarige 
Mann leise und schaute weg. 

»Kennen Sie dieses Mädchen?« 

»Das Gritli Moser.« 

»Wo wohnen die Eltern?« 

»Im Moosbach.« 

»Weit vom Dorf?« 

»Eine Viertelstunde.« 

Matthäi schaute hin. Er war der einzige, der den Blick wagte. 
Niemand sagte ein Wort. 

»Wie ist das gekommen?« fragte der Lehrer. 

»Ein Sexualverbrechen«, antwortete Matthäi. »Ging das Kind 
zu Ihnen in die Schule?« 

»Zu Fräulein Krumm. In die dritte Klasse.« 

»Haben Mosers noch mehr Kinder?« 

»Gritli war das einzige.« 

»Jemand muß es den Eltern sagen.« 

Die Männer schwiegen wieder. 

»Sie, Herr Lehrer?« fragte Matthäi. 

Luginbühl antwortete lange nichts. »Halten Sie mich nicht für 
feige«, sagte er endlich zögernd, »aber ich möchte es nicht tun. 
Ich kann es nicht«, fügte er leise hinzu. 


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»Verstehe«, sagte Matthäi. »Der Herr Pfarrer?« 

»In der Stadt.« 

»Gut«, antwortete Matthäi darauf ruhig. »Sie können gehen, 
Herr Luginbühl.« 

Der Lehrer ging zur Straße zurück. Dort hatten sich immer mehr 
von Mägendorf angesammelt. 

Matthäi blickte zu Henzi hinüber, der immer noch an der Buche 
lehnte. »Bitte nicht, Kommissär«, sagte Henzi leise. Auch der 
Staatsanwalt schüttelte den Kopf. Matthäi blickte noch einmal 
hin und dann zum roten Röcklein, das zerrissen im Gebüsch 
lag, durchtränkt von Blut und Regen. 

»Dann werde ich gehen«, sagte er und hob den Korb mit den 
Brezeln auf. 

»Im Moosbach« lag in einer kleinen moorartigen Niederung bei 
Mägendorf. Matthäi hatte den Dienstwagen im Dorfe verlassen 
und ging zu Fuß. Er wollte Zeit gewinnen. Schon von weitem 
sah er das Haus. Er blieb stehen und wandte sich um. Er hatte 
Schritte gehört. Der kleine Bub und das Mädchen waren wieder 
da, mit gerötetem Gesicht. Sie mußten Abkürzungen benützt 
haben, anders war ihre erneute Gegenwart nicht zu erklären. 

Matthäi ging weiter. Das Haus war niedrig, weiße Mauern mit 
dunklen Balken, darüber ein Schindeldach. Hinter dem Haus 
Obstbäume und im Garten schwarze Erde. Vor dem Hause 
hackte ein Mann Holz. Er blickte auf und bemerkte den 
herankommenden Kommissär. 

»Was wünschen Sie?« sagte der Mann. 

Matthäi zögerte, war ratlos, stellte sich dann vor und fragte, nur 
um Zeit zu gewinnen: »Herr Moser?« 

»Der bin ich, was wollen Sie?« sagte der Mann noch einmal. Er 
kam näher und blieb vor Matthäi stehen, das Beil in der Hand. 
Er mußte etwa vierzig sein. Er war hager, sein Antlitz zerfurcht, 
und die grauen Augen betrachteten den Kommissär forschend. 
In der Türe erschien eine Frau, auch sie in einem roten Rock. 
Matthäi überlegte, was er sagen sollte. Er hatte sich dies seit 


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langem überlegt, aber er wußte es immer noch nicht. Da kam 
ihm Moser zu Hilfe. Er hatte den Korb in Matthäis Hand erblickt. 

»Ist Gritli etwas geschehen?« fragte er und sah aufs neue 
Matthäi forschend an. 

»Haben Sie Ihr Gritli irgendwohin geschickt?« fragte der 
Kommissär. 

»Zu ihrer Großmutter in Fehren«, antwortete der Bauer. 

Matthäi überlegte; Fehren war das Nachbardorf. »Ging Gritli 
diesen Weg öfters?« fragte er. 

»Jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag«, sagte der Bauer 
und fragte dann in einer plötzlichen, jähen Angst: »Warum 
wollen Sie das wissen? Weshalb bringen Sie den Korb 
zurück?« 

Matthäi stellte den Korb auf den Baumstumpf, auf dem Moser 
Holz gehackt hatte. 

»Das Gritli ist im Walde bei Mägendorf tot aufgefunden 
worden«, sagte er. 

Moser rührte sich nicht. Auch die Frau nicht, die immer noch in 
der Türe stand in ihrem roten Rock. Matthäi sah, wie dem 
Manne auf einmal Schweiß über das weiße Gesicht floß, 
Schweiß in Bächen. Er hätte gern weggeblickt, aber er war 
gebannt von diesem Gesicht, von diesem Schweiß, und so 
standen sie da und starrten einander an. 

»Das Gritli ist ermordet worden«, hörte sich Matthäi sagen, mit 
einer Stimme, die ohne Mitgefühl zu sein schien, was ihn 
ärgerte. 

»Das ist doch nicht möglich«, flüsterte Moser, »es kann doch 
keine solche Teufel geben«, und dabei zitterte die Faust mit 
dem Beil. 

»Es gibt solche Teufel, Herr Moser«, sagte Matthäi. 

Der Mann starrte ihn an. 

»Ich will zu meinem Kinde«, sagte er fast unhörbar. 


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Der Kommissär schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht, Herr 
Moser. Ich weiß, es ist grausam, was ich jetzt sage, aber es ist 
besser, wenn Sie nicht zu Ihrem Gritli gehen.« 

Moser trat ganz nahe zum Kommissär, so nahe, daß sich die 
beiden Männer Auge in Auge gegenüberstanden. 

»Warum ist es besser?« schrie er. 

Der Kommissär schwieg. 

Noch einen Augenblick lang wog Moser das Beil in der Hand, 
als wollte er zuschlagen, doch dann wandte er sich um und 
ging zu der Frau, die immer in der Türe stand. Noch immer 
ohne Bewegung, noch immer stumm. Matthäi wartete. Es 
entging ihm nichts, und er wußte auf einmal, daß er diese 
Szene nie mehr vergessen würde. Moser umklammerte seine 
Frau. Er wurde plötzlich von einem unhörbaren Schluchzen 
geschüttelt. Er barg sein Gesicht an ihrer Schulter, während sie 
ins Leere starrte. 

»Morgen abend dürfen Sie Ihr Gritli sehen«, versprach der 
Kommissär hilflos. »Das Kind wird dann aussehen, als ob es 
schliefe.« 

Da begann plötzlich die Frau zu sprechen. 

»Wer ist der Mörder?« fragte sie mit einer Stimme, die so ruhig 
und sachlich war, daß Matthäi erschrak. 

»Das werde ich schon herausfinden, Frau Moser.« 

Die Frau schaute ihn nun an, drohend, gebietend. 
»Versprechen Sie das?« 

»Ich verspreche es, Frau Moser«, sagte der Kommissär, auf 
einmal nur vom Wunsche bestimmt, den Ort zu verlassen. 

»Bei Ihrer Seligkeit?« 

Der Kommissär stutzte. »Bei meiner Seligkeit«, sagte er 
endlich. Was wollte er anders. 

»Dann gehen Sie«, befahl die Frau. »Sie haben bei Ihrer 
Seligkeit geschworen.« 

Matthäi wollte noch etwas Tröstliches sagen und wußte nichts 
Tröstliches. 


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»Es tut mir leid«, sagte er leise und wandte sich um. Er ging 
langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Vor ihm lag 
Mägendorf mit dem Wald dahinter. Darüber der Himmel nun 
ohne Wolken. Er erblickte die beiden Kinder wieder, die am 
Straßenrand kauerten, an denen er müde vorüberschritt und die 
ihm trippelnd folgten. Dann hörte er plötzlich vom Hause her, 
hinter sich, einen Schrei wie von einem Tier. Er beschleunigte 
seinen Schritt und wußte nicht, ob es der Mann oder die Frau 
war, das so weinte. 

Nach Mägendorf zurückgekehrt, sah sich Matthäi schon der 
ersten Schwierigkeit gegenüber. Der große Wagen des 
Überfallkommandos war ins Dorf gefahren und wartete auf den 
Kommissär. Der Tatort und seine nähere Umgebung waren 
genau untersucht und dann abgesperrt worden. Drei Polizisten 
in Zivil hielten sich im Walde verborgen. Sie hatten den Auftrag, 
die Passanten zu beobachten. Vielleicht, daß man so auf die 
Spur des Mörders käme. Der Rest der Mannschaft war in die 
Stadt zu bringen. Der Himmel war reingefegt, doch hatte der 
Regen keine Lockerung gebracht. Der Föhn lag immer noch 
über den Dörfern und Wäldern, brauste heran in großen 
weichen Stößen. Die unnatürliche schwere Wärme machte die 
Menschen böse, reizbar, ungeduldig. Die Straßenlampen 
brannten schon, obgleich es noch Tag war. Die Bauern waren 
zusammengeströmt. Sie hatten von Gunten entdeckt. Sie 
hielten ihn für den Täter; Hausierer sind immer verdächtig. Sie 
glaubten ihn schon verhaftet und umgaben den Wagen des 
Überfallkommandos. Der Hausierer hielt sich im Innern still. Er 
kauerte zitternd zwischen den steif sitzenden Polizisten. Die 
Mägendorfer rückten immer näher an die Wagen heran, 
preßten die Gesichter an die Scheiben. Die Polizisten wußten 
nicht, was sie tun sollten. 

Im Dienstwagen hinter dem Überfallkommando befand sich der 
Staatsanwalt; auch er wurde festgehalten. Außerdem war noch 
der Wagen des Gerichtsmediziners eingeschlossen, der von 
Zürich gekommen war, und jener der Sanität mit der kleinen 
Leiche, ein weißes Automobil mit rotem Kreuz. Die Männer 
standen drohend da, doch schweigend; die Frauen klebten an 


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den Häusern. Auch sie schwiegen. Die Kinder waren auf die 
Einfassung des Dorfbrunnens geklettert. Eine dumpfe Wut, die 
keinen Plan hatte, rottete die Bauern zusammen. Sie wollten 
Rache, Gerechtigkeit. Matthäi versuchte sich zum 
Überfallkommando durchzuschlagen, doch war dies nicht 
möglich. Das beste war, den Gemeindepräsidenten 
aufzusuchen. Er fragte nach ihm. Niemand gab Antwort. Nur 
einige leise Drohworte wurden hörbar. Der Kommissär 
überlegte und ging ins Wirtshaus. Er täuschte sich nicht, der 
Gemeindepräsident saß im Hirschen. Er war ein kleiner, 
schwerer Mann mit ungesundem Aussehen. Er trank ein Glas 
Veltliner um das andere und spähte durch die niedrigen 
Fenster. 

»Was soll ich tun, Kommissär?« fragte er. »Die Leute sind 
störrisch. Sie haben das Gefühl, die Polizei genüge nicht. Sie 
müßten selbst für die Gerechtigkeit sorgen.« Dann seufzte er: 
»Das Gritli war ein gutes Kind. Wir liebten es.« 

Dem Gemeindepräsidenten standen Tränen in den Augen. 

»Der Hausierer ist unschuldig«, sagte Matthäi. 

»Dann hättet ihr ihn nicht verhaftet.« 

»Er ist nicht verhaftet. Wir brauchen ihn als Zeugen.« 

Der Gemeindepräsident betrachtete Matthäi finster. »Ihr wollt 
euch nur herausreden«, sagte er. »Wir wissen, was wir zu 
denken haben.« 

»Als Gemeindepräsident haben Sie vor allem für unseren freien 
Abzug zu sorgen.« 

Der andere leerte seinen Dreier Roten. Er trank, ohne ein Wort 
zu sagen. 

»Nun?« fragte Matthäi unwillig. 

Der Gemeindepräsident blieb hartnäckig. 

»Dem Hausierer geht es eben an den Kragen«, brummte er. 

Der Kommissär wurde deutlich. »Dann würde es vorher zum 
Kampfe kommen, Gemeindepräsident von Mägendorf.« 

»Ihr wollt für einen Lustmörder kämpfen?« 


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»Ob er schuldig ist oder nicht, Ordnung muß sein.« 

Der Gemeindepräsident ging zornig in der niedrigen Gaststube 
auf und ab. Er schenkte sich, da niemand bediente, an der 
Theke selbst Wein ein. Er trank ihn so hastig, daß große dunkle 
Streifen über sein Hemd liefen. Die Menge verhielt sich 
draußen immer noch ruhig. Doch als der Chauffeur versuchte, 
den Polizeiwagen in Bewegung zu setzen, schlössen sich die 
Reihen dichter. 

Nun betrat auch der Staatsanwalt das Gastzimmer. Er hatte 
sich mühsam durch die Mägendorfer gezwängt. Seine Kleider 
waren in Unordnung geraten. Der Gemeindepräsident erschrak. 
Das Erscheinen eines Staatsanwalts war ihm unbehaglich; als 
normalem Menschen war ihm dieser Beruf nicht geheuer. 

»Herr Gemeindepräsident«, sagte der Staatsanwalt, »die 
Mägendorfer scheinen zur Lynchjustiz greifen zu wollen. Ich 
sehe keinen anderen Ausweg, als Verstärkung kommen zu 
lassen. Das wird euch wohl zur Vernunft bringen.« 

»Versuchen wir noch einmal mit den Leuten zu reden«, schlug 
Matthäi vor. 

Der Staatsanwalt tippte dem Gemeindepräsidenten mit dem 
Zeigefinger der rechten Hand auf die Brust. 

»Wenn Sie uns nicht auf der Stelle vor den Leuten Gehör 
verschaffen«, brummte er, »werden Sie etwas erleben.« 

Draußen begannen die Kirchenglocken Sturm zu läuten. Die 
Mägendorfer erhielten von allen Seiten Zuzug. Sogar die 
Feuerwehr rückte auf und nahm gegen die Polizei Stellung. Die 
ersten Schimpfwörter fielen. Schrill, einzeln. 

»Tschugger! Schroter!« 

Die Polizisten machten sich bereit. Sie erwarteten den Angriff 
der Menge, die immer unruhiger wurde, doch waren sie ebenso 
hilflos wie die Mägendorfer. Ihre Tätigkeit setzte sich aus 
Ordnungsdienst und individuellen Aktionen zusammen; hier 
standen sie etwas Unbekanntem gegenüber. Doch erstarrten 
die Bauern wieder, wurden ruhiger. Der Staatsanwalt war mit 
dem Gemeindepräsidenten und Matthäi aus dem Hirschen 


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getreten, zu dessen Haustüre eine steinerne Treppe mit einem 
Eisengeländer führte. »Mägendorfer«, verkündete der 
Gemeindepräsident, »ich bitte, den Herrn Staatsanwalt 
Burkhard anzuhören.« 

Es war keine Reaktion der Menge sichtbar. Die Bauern und 
Arbeiter standen wieder wie vorher, schweigend, drohend, ohne 
Bewegung unter dem Himmel, der sich mit dem ersten Glanz 
des Abends überzog; Straßenlaternen schwankten wie blasse 
Monde über dem Platz. Die Mägendorfer waren entschlossen, 
den Menschen in ihre Gewalt zu bekommen, den sie für den 
Mörder hielten. Die Polizeiwagen lagen wie große dunkle Tiere 
inmitten der Menschenbrandung. Sie versuchten immer wieder 
loszukommen, die Motoren heulten auf und wurden mutlos 
wieder abgedrosselt. Sinnlos. Alles war von einer schweren 
Ratlosigkeit über das Geschehene dieses Tages erfüllt, die 
dunklen Giebel des Dorfs, der Platz, die Ansammlung der 
Menschen, als hätte der Mord die Welt vergiftet. 

»Leute«, begann der Staatsanwalt unsicher und leise, doch 
man hörte jedes Wort, »Mägendorfer, wir sind erschüttert über 
das scheußliche Verbrechen. Das Gritli Moser wurde ermordet. 
Wir wissen nicht, wer das Verbrechen begangen hat...« 

Weiter kam der Staatsanwalt mit seiner Ansprache nicht. 

»Gebt ihn heraus!« 

Fäuste erhoben sich, Pfiffe ertönten. 

Matthäi schaute gebannt auf die Masse. 

»Schnell, Matthäi«, befahl der Staatsanwalt, »telefonieren Sie. 
Holen Sie Verstärkung herbei.« 

»Von Gunten ist der Mörder!« schrie ein langer, hagerer Bauer 
mit sonnenverbranntem Gesicht, seit Tagen nicht mehr rasiert. 
»Ich habe ihn gesehen, es war sonst niemand im Tälchen!« 

Es war der Bauer, der auf dem Felde gearbeitet hatte. 

Matthäi trat nach vorn. 

»Leute«, rief er, »ich bin Kommissär Matthäi. Wir sind bereit, 
den Hausierer herauszugeben!« 

So groß war die Überraschung, daß es totenstill wurde. 


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»Sind Sie verrückt geworden?« zischte der Staatsanwalt dem 
Kommissär aufgeregt zu. 

»Seit altersher werden in unserem Lande die Verbrecher durch 
Gerichte abgeurteilt, wenn sie schuldig, und freigesprochen, 
wenn sie unschuldig sind«, fuhr Matthäi fort. »Ihr habt nun 
beschlossen, dieses Gericht selbst zu bilden. Ob ihr das Recht 
dazu habt, wollen wir hier nicht untersuchen, ihr habt euch das 
Recht genommen.« 

Matthäi sprach klar und deutlich. Die Bauern und Arbeiter 
lauschten aufmerksam. Es kam ihnen auf jedes Wort an. Weil 
Matthäi sie ernst nahm, nahmen sie ihn auch ernst. 

»Doch etwas«, fuhr Matthäi fort, »muß ich von euch verlangen 
wie von jedem anderen Gericht: Gerechtigkeit. Denn es ist klar, 
daß wir euch den Hausierer nur dann ausliefern können, wenn 
wir überzeugt sind, daß ihr die Gerechtigkeit wollt.« 

»Wir wollen sie!« schrie einer. 

»Euer Gericht hat eine Bedingung zu erfüllen, wenn es ein 
gerechtes Gericht sein will. Diese Bedingung heißt: Das 
Unrecht muß vermieden werden. Dieser Bedingung habt auch 
ihr euch zu unterwerfen.« 

»Angenommen!« schrie ein Vorarbeiter der Ziegelfabrik. 

»Ihr müßt deshalb untersuchen, ob dem von Gunten Recht 
oder Unrecht geschieht, wenn er des Mordes beschuldigt wird. 
Wie ist der Verdacht entstanden?« 

»Der Kerl hat schon einmal gesessen«, schrie ein Bauer. 

»Das erhöht den Verdacht, von Gunten könnte der Mörder 
sein«, erläuterte Matthäi, »aber es ist noch kein Beweis, daß er 
es wirklich ist.« 

»Ich habe ihn im Tälchen gesehen«, rief der Bauer mit dem 
sonnenverbrannten, struppigen Gesicht abermals. 

»Kommen Sie herauf«, forderte ihn der Kommissär auf. 

Der Bauer zögerte. 

»Geh, Heiri«, rief einer, »sei kein Feigling.« 


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Der Bauer kam herauf. Unsicher. Der Gemeindepräsident und 
der Staatsanwalt waren in den Hausgang des Hirschen 
zurückgetreten, so daß Matthäi mit dem Bauern allein auf der 
Plattform stand. 

»Was wollen Sie von mir?« fragte der Bauer. »Ich bin der Benz 
Heiri.« 

Die Mägendorfer starrten gespannt auf die beiden. Die 
Polizisten hatten ihre Gummiknüttel wieder eingehängt. Auch 
sie beobachteten den Vorgang atemlos. Die Dorfjugend war auf 
die Leiter des Feuerwehrwagens geklettert, die halb 
hochgefahren war. 

»Sie haben den Hausierer von Gunten im Tälchen beobachtet, 
Herr Benz«, begann der Kommissär. »War er allein im 
Tälchen?« 

»Allein.« 

»Was arbeiteten Sie, Herr Benz?« 

»Ich setzte mit meiner Familie Kartoffeln.« 

»Seit wann taten Sie das?« 

»Seit zehn Uhr. Ich habe auch mit der Familie auf dem Felde zu 
Mittag gegessen«, sagte der Bauer. 

»Und Sie haben niemand außerdem Hausierer beobachtet?« 

»Niemand, das kann ich beschwören«, beteuerte der Bauer. 

»Das ist doch Unsinn, Benz!« riefein Arbeiter. »Um zwei bin ich 
an deinem Kartoffelacker vorbeigekommen!« 

Es meldeten sich zwei weitere Arbeiter. Auch sie hatten um 
zwei mit dem Fahrrad das Tälchen passiert. 

»Und ich bin mit dem Fuhrwerk durchs Tälchen gekommen, du 
Trottel«, schrie ein Bauer hinauf. »Aber du arbeitest ja immer 
wie verrückt, du Geizhals, und deine Familie muß schuften, daß 
allen der Rücken krumm geworden ist. Hunderte von nackten 
Weibern könnten an dir vorbeiziehen, und du würdest nicht 
aufschauen.« 

Gelächter. 


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»Der Hausierer war demnach nicht allein im Tälchen«, stellte 
Matthäi fest. »Doch wir wollen weitersuchen. Parallel dem 
Walde führt eine Straße in die Stadt. Ist jemand diesen Weg 
gegangen?« 

»Der Gerber Fritz«, rief einer. 

»Ich habe den Weg gemacht«, gab ein schwerfälliger Bauer zu, 
der auf der Feuerspritze saß. »Mit dem Fuhrwerk.« 

»Wann?« 

»Um zwei.« 

»Von dieser Straße führt ein Waldweg zum Tatort«, stellte der 
Kommissär fest. »Haben Sie jemand bemerkt, Herr Gerber?« 

»Nein«, brummte der Bauer. 

»Oder vielleicht ein parkendes Automobil beobachtet?« 

Der Bauer stutzte. »Ich glaube«, sagte er unsicher. 

»Wissen Sie das bestimmt?« 

»Irgend etwas war dort.« 

»Vielleicht ein roter Mercedes Sportwagen?« 

»Möglich.« 

»Oder ein grauer Volkswagen?« 

»Auch möglich.« 

»Ihre Antworten sind reichlich unbestimmt«, sagte Matthäi. 

»Ich habe schließlich auf dem Fuhrwerk halb geschlafen«, gab 
der Bauer zu. »Das tut jeder in dieser Hitze.« 

»Dann will ich Sie bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam 
machen, daß man auf einer öffentlichen Straße nicht schlafen 
sollte«, wies ihn Matthäi zurecht. 

»Die Pferde passen schon auf«, sagte der Bauer. 

Alle lachten. 

»Ihr überblickt nun die Schwierigkeiten, vor denen ihr als 
Richter steht«, stellte Matthäi fest. »Das Verbrechen wurde 
durchaus nicht in der Einsamkeit begangen. Nur fünfzig Meter 
von der Familie entfernt, die auf dem Felde arbeitete. Wäre sie 
aufmerksam gewesen, hätte das Unglück nicht geschehen 


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können. Doch sie war sorglos, weil sie nicht im geringsten mit 
der Möglichkeit eines solchen Verbrechens rechnete. Sie hatte 
weder das Mädchen kommen sehen, noch die andern, die des 
Weges kamen. Der Hausierer war ihr aufgefallen, das ist alles. 
Aber auch Herr Gerber döste auf seinem Fuhrwerk vor sich hin 
und kann jetzt keine einzige wichtige Aussage mit der nötigen 
Genauigkeit machen. So steht die Sache. Ist damit der 
Hausierer überführt? Das müßt ihr euch fragen. Zu seinen 
Gunsten spricht schließlich, daß er die Polizei alarmiert hat. Ich 
weiß nicht, wie ihr als Richter vergehen wollt, aber ich will euch 
sagen, wie wir von der Polizei vergehen möchten.« 

Der Kommissär machte eine Pause. Er stand wieder allein vor 
den Mägendorfern. Benz war verlegen in die Menge 
zurückgekehrt. 

»Jeder verdächtige Mensch würde, ohne Rücksicht auf seine 
Stellung aufs genaueste geprüft, allen nur denkbaren Spuren 
würde nachgegangen, und nicht nur das, die Polizei anderer 
Länder würde eingesetzt werden, wenn sich dies als notwendig 
erwiese. Ihr seht, eurem Gericht steht wenig und uns ein 
Riesenapparat zur Verfügung, die Wahrheit zu ermitteln. 
Entscheidet jetzt, was geschehen soll.« 

Schweigen. Die Mägendorfer waren nachdenklich geworden. 

»Gebt ihr den Hausierer wirklich heraus?« fragte der 
Vorarbeiter. 

»Mein Wort«, antwortete Matthäi. »Wenn ihr auf der 
Herausgabe besteht.« 

Die Mägendorfer waren unschlüssig. Die Worte des 
Kommissärs hatten Eindruck gemacht. Der Staatsanwalt war 

nervös. Ihm kam die Sache bedenklich vor. Doch atmete er auf. 
»Nehmt ihn mit«, hatte ein Bauer geschrien. 

Die Mägendorfer bildeten stumm eine Gasse. Der Staatsanwalt 
zündete sich erlöst eine Brissago an. 

»Gewagt, wie Sie vorgegangen sind, Matthäi«, meinte er. 
Stellen Sie sich vor. Sie hätten Ihr Wort halten müssen.« 


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»Ich wußte, daß dies nicht der Fall sein würde«, antwortete der 
Kommissär gelassen. 

»Hoffentlich geben Sie nie ein Versprechen, das Sie einhalten 
müssen«, sagte der Staatsanwalt und half seiner Brissago mit 
einem Streichholz zum zweitenmal nach, grüßte den 
Gemeindepräsidenten und machte sich zum befreiten Wagen 
auf. 

Matthäi fuhr nicht mit dem Staatsanwalt zurück. Er stieg zum 
Hausierer. Die Polizisten machten ihm Platz. Es war heiß im 
Innern des großen Wagens. Man wagte es immer noch nicht, 
die Scheiben hinunterzulassen. Obgleich die Mägendorfer Platz 
gemacht hatten, standen die Bauern immer noch da. Von 
Gunten kauerte hinter dem Chauffeur, Matthäi setzte sich zu 
ihm. 

»Ich bin unschuldig«, beteuerte von Gunten leise. 

»Natürlich«, sagte Matthäi. 

»Niemand glaubt mir«, flüsterte von Gunten, »auch die 
Polizisten nicht.« 

Der Kommissär schüttelte den Kopf. »Das bilden Sie sich nur 
ein.« 

Der Hausierer ließ sich nicht beruhigen. »Auch Sie glauben mir 
nicht, Herr Doktor.« 

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Polizisten saßen 
schweigend. Draußen war es nun Nacht geworden. Die 
Straßenlampen warfen goldene Lichter über die starren 
Gesichter. Matthäi fühlte das Mißtrauen, das jedermann dem 
Hausierer gegenüber hegte, den Verdacht, der aufstieg. Er tat 
ihm leid. 

»Ich glaube Ihnen, von Gunten«, sagt er und spürte, daß er 
auch nicht ganz überzeugt war, »ich vveiß, daß Sie unschuldig 
sind.« 

Die ersten Häuser der Stadt rückten heran. 

»Sie werden noch dem Kommandanten vorgeführt werden 
müssen, von Gunten«, sagte der Kommissär, »Sie sind unser 
wichtigster Zeuge.« 


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»Ich verstehe«, murmelte der Hausierer, und dann flüsterte er 
wieder: »Auch Sie glauben mir nicht.« 

»Unsinn.« 

Der Hausierer blieb hartnäckig. »Ich weiß es«, sagte er nur 
leise, fast unhörbar und starrte in die roten und grünen 
Lichtreklamen, die nun wie gespenstische Gestirne in den 
gleichmäßig dahinrollenden Wagen strahlten. 

Dies waren die Vorgänge, die mir in der Kasernenstraße 
rapportiert wurden, nachdem ich aus Bern mit dem 
Halbachtschnellzug zurückgekommen war. Es handelte sich um 
den dritten Kindermord dieser Art. Vor zwei Jahren war ein 
Mädchen im Kanton Schwyz und vor fünf eines im Sankt- 
Gallischen mit einem Rasiermesser getötet worden, vom Täter 
keine Spur. Ich ließ den Hausierer vorführen. Der Mann war 
achtundvierzig, klein, fettig, ungesund, wohl sonst geschwätzig 
und frech, doch nun verängstigt. Seine Angaben vorerst klar. Er 
habe am Waldrand gelegen, die Schuhe ausgezogen, den 
Hausiererkorb ins Gras gestellt. Er habe beabsichtigt, 
Mägendorf zu besuchen, dort seine Waren, Bürsten, 
Hosenträger, Rasierklingen, Schnürsenkel usw. abzusetzen, 
doch unterwegs vom Briefträger erfahren, daß Wegmüller in 
den Ferien sei und Riesen ihn vertrete. So habe er eben 
gezögert und sich ins Gras geworfen; unsere jungen Polizisten 
würden meist von Anwandlungen der Tüchtigkeit befallen, er 
kenne die Herrschaften. Er habe vor sich hin gedöst. Das kleine 
Tal im Schatten der Wälder, von einer Straße durchzogen. In 
nicht allzu großer Ferne eine Bauernfamilie auf dem Felde, von 
einem Hunde umkreist. Die Mahlzeit im »Bären« in Fehren sei 
opulent gewesen. Berner-platte und Twanner; er liebe es, üppig 
zu speisen, habe auch durchaus die Mittel, denn so unrasiert, 
ungepflegt und verlumpt er im Lande herumhantiere, sein 
Aussehen täusche, sei er doch einer jener Hausierer, die 
verdienten und etwas auf der Seite hätten. Dazu sei viel Ber 
gekommen, und, als er schon im Gras lagerte, zwei Tafeln 
Lindt-Schokolade. Der heranziehende Sturm, die Windstöße 
hätten ihn dann vollends eingeschläfert. Doch sei es ihm wenig 
später gewesen, ein Schrei hätte ihn geweckt, der helle Schrei 


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eines kleinen Mädchens, und es habe ihm geschienen, als er 
schlaftrunken das Tal hinaufstarrte, als ob die Bauernfamilie auf 
dem Felde einen Moment verwundert hingehorcht hätte; dann 
sei sie, von ihrem Hund umkreist, gleich wieder in ihre gebückte 
Stellung verfallen. Irgendein Vogel, sei es ihm durch den Kopf 
geschossen, ein Käuzchen vielleicht, was habe er gewußt. 
Doch habe ihn die Erklärung beruhigt. Er habe weitergedöst, 
aber dann, als ihm die plötzliche Totenstille der Natur 
aufgefallen sei, auf einmal den nun schon finsteren Himmel 
wahrgenommen. Darauf sei er in die Schuhe geschlüpft und 
habe sich den Korb umgehängt, unzufrieden und argwöhnisch, 
denn der geheimnisvolle Vogelschrei sei ihm aufs neue in den 
Sinn gekommen. Er habe sich deshalb entschlossen, es doch 
besser nicht mit Riesen zu versuchen, Mägendorf Mägendorf 
sein zu lassen. Ein unrentables Nest sei es ja immer gewesen. 
Er habe darauf in die Stadt zurückkehren wollen und den 
Waldweg als Abkürzung zur SBB-Station genommen, worauf er 
auf die Leiche des ermordeten Mädchens gestoßen sei. Dann 
sei er nach Mägendorf in den »Hirschen« gerannt und habe 
Matthäi informiert; den Bauern habe er nichts gesagt, aus 
Angst, verdächtigt zu werden. Dies seine Aussage. Ich ließ den 
Mann abführen, aber noch nicht gehen. Vielleicht nicht ganz 
korrekt. Der Staatsanwalt hatte die Untersuchungshaft nicht 
angeordnet, doch hatten wir keine Zeit, zimperlich zu sein. 
Seine Erzählung kam mir zwar wahrheitsgetreu vor, mußte aber 
noch nachgeprüft werden, und dann war von Gunten schließlich 
vorbestraft. Ich war schlechter Laune. Ich hatte kein gutes 
Gefühl bei diesem Fall; alles war irgendwie schiefgegangen, ich 
wußte nur nicht wie; ich spürte es einfach. Ich zog mich in die 
»Boutique« zurück, wie ich mich ausdrückte, in einen kleinen 
verrauchten Raum neben meinem amtlichen Büro. Ich ließ mir 
eine Flasche Chateauneuf-du-Pape von einem Restaurant in 
der Nähe der Sihlbrücke holen, trank einige Gläser. Es 
herrschte stets eine fürchterliche Unordnung in diesem Zimmer, 
ich will es nicht verschweigen; Bücher und Akten lagen 
durcheinander, aus Prinzip freilich, denn ich bin der Meinung, 
es sei jedermanns Pflicht, in diesem geordneten Staat 
gleichsam kleine Inseln der Unordnung zu errichten, wenn auch 


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nur inn geheinnen. Dann ließ ich mir die Photographien geben. 
Sie waren scheußlich. Darauf studierte ich die Karte. Perfider 
hätte der Tatort nicht ausgewählt werden können. Ob der 
Mörder von Mägendorf, von den umliegenden Dörfern oder von 
der Stadt gekommen war, ob er zu Fuß oder mit der Bahn 
reiste, ließ sich theoretisch nicht ausmachen. Es war alles 
möglich. Matthäi kam. 

»Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm, »daß Sie sich an Ihrem 
letzten Tag bei uns mit einer so traurigen Affäre abgeben 
müssen.« 

»Unser Beruf, Kommandant.« 

»Wenn ich so die Photographien von diesem Mord betrachte, 
wünsche ich ihn zum Teufel«, antwortete ich und schob die 
Photographien wieder in den Umschlag. 

Ich ärgerte mich und konnte meine Gefühle vielleicht nicht ganz 
beherrschen. Matthäi war mein bester Kommissär - Sie sehen, 
ich bleibe bei dieser nicht korrekten, aber sympathischeren 
Rangbezeichnung -, sein Ausscheiden war mir in diesem 
Augenblick höchst zuwider. 

Erschien meine Gedanken zu erraten. 

»Ich denke. Sie übergeben den Fall am besten Henzi«, meinte 
er. 

Ich zögerte. Ich wäre auf diesen Vorschlag auf der Stelle 
eingegangen, wenn es sich nicht um einen Lustmord gehandelt 
hätte. Bei jedem anderen Verbrechen haben wir es leichter. Wir 
brauchen nur die Motive zu überlegen, Geldmangel, Eifersucht, 
und schon läßt sich der Kreis der Verdächtigen enger ziehen. 
Doch bei einem Lustmord ist diese Methode sinnlos. Da kann 
einer auf der Geschäftsreise ein Mädchen sehen oder einen 
Knaben, er steigt aus seinem Wagen - keine Zeugen, keine 
Beobachtungen, und am Abend sitzt er wieder zu Hause, 
vielleicht in Lausanne, vielleicht in Basel, irgendwo, und wir 
stehen da, ohne Anhaltspunkte. Ich unterschätzte Henzi nicht, 
er war ein tüchtiger Beamter, aber nicht erfahren genug, wie mir 
schien. 

Matthäi teilte meine Bedenken nicht. 


- 30 - 


»Er hat nun drei Jahre unter mir gearbeitet«, sagte er, »er kennt 
sein Metier durch mich, und ich kann mir keinen besseren 
Nachfolger vorstellen. Er wird seine Aufgaben so erledigen, wie 
ich es tun würde. Und außerdem werde ich morgen noch dabei 
sein«, fügte er hinzu. 

Ich ließ Henzi kommen und befahl ihm, mit Wachtmeister 
Treuler zusammen das engere Mordbüro zu bilden. Er war 
erfreut; es war sein erster »selbständiger Fall«. 

»Bedanken Sie sich bei Matthäi«, brummte ich und fragte ihn 
nach der Stimmung bei der Mannschaft. Wir schwammen, 
hatten weder Anhaltspunkte noch Resultate, und es war 
wichtig, daß die Mannschaft unsere Unsicherheit nicht spürte. 

»Sie ist überzeugt, wir hätten den Mörder schon«, bemerkte 
Henzi. 

»Den Hausierer?« 

»Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Von 
Gunten hat schließlich schon ein Sittlichkeitsdelikt begangen.« 

»Mit einer Vierzehnjährigen«, warf Matthäi ein. »Das ist etwas 
anderes.« 

»Wir sollten den Mann ins Kreuzverhör nehmen«, schlug Henzi 
vor. 

»Das hat Zeit«, entschied ich. »Ich glaube nicht, daß der Mann 
etwas mit dem Mord zu tun hat. Er ist nur unsympathisch, und 
da kommt ein Verdacht gleich auf. Aber das ist ein subjektiver 
Grund, meine Herren, kein kriminalistischer, und dem wollen wir 
nicht so ohne weiteres nachgeben.« 

Damit verabschiedete ich die Herren, ohne daß sich meine 
Laune besserte. 

Wir setzten die ganze verfügbare Mannschaft ein. Schon in der 
Nacht und am folgenden Tage ließen wir in den Garagen 
nachfragen, ob in einem Wagen Blutspuren festgestellt worden 
waren, später ebenfalls in den Wäschereien. Dann ließen wir 
das Alibi aller jener Leute nachprüfen, die einmal mit gewissen 
Paragraphen in Berührung gekommen waren. Bei Mägendorf 
drangen unsere Leute mit Hunden und sogar mit einem 


- 31 - 


Minensuchgerät in den Wald, in welchem der Mord geschehen 
war. Sie durchforschten das Gehölz nach Spuren, hofften vor 
allem die Mordwaffe zu finden. Sie untersuchten systematisch 
jeden Quadratmeter, stiegen ins Tobel hinunter, forschten im 
Bach. Die gefundenen Gegenstände wurden gesammelt, der 
Wald bis nach Mägendorf hin durchgekämmt. 

Ich beteiligte mich ebenfalls an den Recherchen in Mägendorf, 
was sonst nicht meine Art war. Auch Matthäi schien unruhig. Es 
war ein durchaus angenehmer Frühlingstag, leicht, ohne Föhn, 
doch blieb unsere Stimmung düster. Henzi verhörte im 
»Hirschen« die Bauern und die Fabrikarbeiter, und wir machten 
uns auf, die Schule zu besuchen. Wir kürzten den Weg ab und 
gingen mitten durch eine Wiese mit Obstbäumen. Einige 
standen schon in voller Blüte. Vom Schulhaus her tönte 
Gesang »So nimm denn meine Hände und führe mich«. Der 
Turnplatz vor dem Schulhaus war leer. Ich klopfte an die Türe 
des Klassenzimmers, aus dem der Choral drang, und wir traten 
ein. 

Es waren Mädchen und Buben, die sangen. Kinder von sechs 
bis acht Jahren. Die drei untersten Klassen. Die Lehrerin 
dirigierte, ließ die Hände sinken und sah uns mißtrauisch 
entgegen. Die Kinder hörten auf zu singen. 

»Fräulein Krumm?« 

»Bitte?« 

»Die Lehrerin von Gritli Moser?« 

»Was wünschen Sie von mir?« 

Das Fräulein Krumm war gegen die vierzig, hager, mit großen 
verbitterten Augen. 

Ich stellte mich vor und wandte mich dann den Kindern zu. 
»Grüß Gott, Kinder!« 

Die Kinder sahen mich neugierig an. 

»Grüß Gott!« sagten sie. 

»Ein schönes Lied, das ihr da gesungen habt.« 

»Wir üben den Choral für Gritlis Beerdigung«, erklärte die 
Lehrerin. 


- 32 - 


Im Sandkasten war Robinsons Insel aufgebaut. An den 
Wänden hingen Kinderzeichnungen. 

»Was war es denn für ein Kind, das Gritli?« fragte ich zögernd. 
»Wir liebten es alle«, sagte die Lehrerin. 

»Wie war seine Intelligenz?« 

»Es war ein äußerst phantasievolles Kind.« 

Ich zögerte aufs neue. 

»Ich sollte einige Fragen an die Kinder richten.« 

»Bitte.« 

Ich trat vor die Klasse. Die Mädchen trugen meistens noch 
Zöpfe und bunte Schürzen. 

»Ihr werdet gehört haben«, sagte ich, »v\^s Gritli Moser 
zugestoßen ist. Ich bin von der Polizei, der Kommandant, 

das ist so etwas wie ein Hauptmann bei den Soldaten, und es 
ist meine Aufgabe, den Mann zu suchen, der das Gritli getötet 
hat. Ich will nun zu euch nicht wie zu Kindern, sondern wie zu 
Erwachsenen reden. Der Mann, den wir suchen, ist krank. Alle 
Männer sind krank, die so etwas tun. Und weil sie krank sind, 
versuchen sie, die Kinder in ein Versteck zu locken, um sie zu 
verletzen, in einen Wald oder in einen Keller, was es auch 
immer für verborgene Orte gibt, und das geschieht sehr oft; wir 
haben mehr als zweihundert Fälle im Kanton im Jahr. Und 
manchmal geschieht es dann eben, daß solche Männer ein 
Kind so schwer verletzen, daß es sterben muß, wie es dem 
Gritli ergangen ist. Wir müssen diese Männer deshalb 
einsperren. Sie sind zu gefährlich, um in Freiheit leben zu 
können. Ihr werdet nun fragen, weshalb wir sie nicht vorher 
einsperren, bevor es zu einem Unglück kommt wie dem mit 
dem Gritli? Weil es kein Mittel gibt, diese kranken Menschen zu 
erkennen. Sie sind innerlich krank, nicht äußerlich.« 

Die Kinder hörten atemlos zu. 

»Ihr müßt mir helfen«, fuhr ich fort. »Wir müssen den Mann 
finden, der das Gritli Moser getötet hat, sonst wird er wieder ein 
Mädchen töten.« 

Ich stand nun mitten unter den Kindern. 


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»Erzählte Gritli, ein frennder Mann habe es angesprochen?« 

Die Kinder schwiegen. 

»Ist euch in letzter Zeit etwas an Gritli besonders aufgefallen?« 
Die Kinder wußten nichts. 

»Hat das Gritli in letzter Zeit etwas besessen, das es vorher 
nicht besaß?« 

Die Kinder antworteten nicht. 

»Wer war Gritlis beste Freundin?« 

»Ich«, flüsterte ein Mädchen. 

Es war ein winziges Ding mit braunen Haaren und braunen 
Augen. 

»Wie heißest du denn?« fragte ich. 

»Ursula Fehlmann.« 

»Du bist also Gritlis Freundin gewesen, Ursula.« 

»Wir saßen zusammen.« 

Das Mädchen sprach so leise, daß ich mich zu ihm 
niederbeugen mußte. 

»Und dir ist auch nichts aufgefallen?« 

»Nein.« 

»Gritli hat niemanden getroffen?« 

»Schon jemand«, antwortete das Mädchen. 

»Wen denn?« 

»Keinen Menschen«, sagte das Mädchen. 

Ich wunderte mich über diese Antwort. 

»Was willst du damit sagen, Ursula?« 

»Es hat einen Riesen getroffen«, sagte das Mädchen leise. 
»Einen Riesen?« 

»Ja«, sagte das Mädchen. 

»Du willst sagen, es sei einem großen Mann begegnet?« 

»Nein, mein Vater ist ein großer Mann, aber kein Riese.« 

»Wie groß war er denn?« fragte ich. 


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»Wie ein Berg«, antwortete das Mädchen, »und ganz 
schwarz.« 

»Und hat dieser - Riese - dem Gritli etwas geschenkt?« fragte 
ich. 

»Ja«, sagte das Mädchen. 

»Was denn?« 

«Kleine Igel.« 

»Igel? Was willst du jetzt wieder damit sagen, Ursula?« fragte 
ich ratlos. 

»Der ganze Riese war voll kleiner Igel«, behauptete das 
Mädchen. 

»Das ist doch Unsinn, Ursula«, widersprach ich, »ein Riese hat 
doch keine Igel!« 

»Es war eben ein Igelriese.« 

Das Mädchen blieb dabei. Ich ging zum Pult der Lehrerin 
zurück. 

»Sie haben recht«, sagte ich, »das Gritli scheint wirklich viel 
Phantasie gehabt zu haben, Fräulein Krumm.« 

»Es war ein poetisches Kind«, antwortete die Lehrerin und 
schaute mit ihren traurigen Augen irgendwohin. »Ich sollte jetzt 
den Choral weiterüben. Für die Beerdigung morgen. Die Kinder 
singen ungenügend.« 

Sie gab den Ton an. 

»So nimm denn meine Hände und führe mich«, sangen die 
Kinder aufs neue. 

Auch die Befragung der Mägendorfer im »Hirschen« - wo wir 
Henzi ablösten - ergab nichts Neues, und gegen Abend fuhren 
wir ebenso ergebnislos, wie wir gekommen waren, nach Zürich 
zurück. Schweigend. Ich hatte zuviel geraucht und Roten aus 
der Gegend getrunken. Sie kennen ja diese leicht dubiosen 
Weine. Auch Matthäi saß düster neben mir im Hintergrund des 
Wagens, und erst als wir gegen den Römerhof hinunterkamen, 
begann er zu sprechen. 


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»Ich glaube nicht«, sagte er, »daß der Mörder ein Mägendorfer 
ist. Es muß sich um den gleichen Täter wie im Kanton Sankt 
Gallen und im Kanton Schwyz handeln; der Mord hat sich auf 
die gleiche Weise abgespielt. Ich halte es für wahrscheinlich, 
daß der Mann von Zürich aus operiert.« 

»Möglich«, antwortete ich. 

»Es wird sich um einen Automobilisten handeln, vielleicht um 
einen Reisenden. Der Bauer Gerber hat ja einen Wagen 
gesehen, der im Walde parkte.« 

»Den Gerber habe ich mir heute persönlich vorgenommen«, 
erklärte ich. »Er gestand, er habe eigentlich zu fest geschlafen, 
um etwas bemerken zu können.« 

Wir schwiegen aufs neue. 

»Es tut mir leid, daß ich Sie mitten in einem unaufgeklärten Fall 
verlassen muß«, begann er dann mit etwas unsicherer Stimme, 
»aber den Vertrag mit der jordanischen Regierung muß ich 
einhalten.« 

»Sie fliegen morgen?« fragte ich. 

»Um drei Uhr nachmittags«, antwortete er, »über Athen.« 

»Ich beneide Sie, Matthäi«, sagte ich, und es war mir ernst. 
»Ich wäre auch lieber Polizeichef bei den Arabern als hier in 
Zürich.« 

Dann setzte ich ihn beim Hotel Urban ab, wo er seit Jahr und 
Tag wohnte, und ging in die »Kronenhalle«, in der ich unter 
dem Bilde von Miro aß. Mein Platz. Ich sitze immer dort und 
esse »ab voiture«. 

Als ich jedoch gegen zehn noch einmal in die Kasernenstraße 
ging und dabei an Matthäis ehemaligem Büro vorbeikam, traf 
ich Henzi im Korridor. Er hatte Mägendorf schon mittags 
verlassen, und ich hatte mich eigentlich darüber gewundert, 
doch da ich ihm den Mordfall nun einmal übertragen hatte, war 
es mein Prinzip, ihm nicht am Zeuge zu flicken. Henzi war ein 
Berner, ehrgeizig, aber beliebt bei der Mannschaft. Er hatte 
eine Hottinger geheiratet, war von der sozialistischen Partei zu 
den Liberalen übergetreten und auf dem besten Wege, Karriere 


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zu machen. Dies will ich nur am Rande erwähnen; jetzt ist er 
bei den Unabhängigen. 

»Der Kerl will immer noch nicht gestehen«, sagte er. 

»Wer?« fragte ich verwundert und blieb stehen. »Wer will nicht 
gestehen?« 

»Von Gunten.« 

Ich stutzte. »Dauerverhör?« 

»Schon den ganzen Nachmittag«, sagte Henzi, »und diese 
Nacht machen wir durch, wenn es sein muß. Nun behandelt ihn 
Treuler. Ich bin nur herausgekommen, um Luft zu schnappen.« 

»Das will ich mir doch ansehen«, antwortete ich neugierig und 
betrat Mattäis ehemaliges Büro. 

Der Hausierer hatte auf einem Bürosessel ohne Lehne Platz 
genommen, Treuler seinen Stuhl an Matthäis alten Schreibtisch 
gerückt, der ihm als Stütze für seinen linken Arm diente, dazu 
die Beine übereinandergeschlagen und den Kopf in die linke 
Hand gelegt. Er rauchte eine Zigarette. Feiler nahm das 
Protokoll auf. Henzi und ich blieben in der Türe stehen und 
wurden von dem Hausierer nicht bemerkt, da er uns den 
Rücken zukehrte. 

»Ich habe es nicht getan, Herr Polizeiwachtmeister«, murmelte 
der Hausierer. 

»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich sagte nur, du könntest 
es getan haben«, erwiderte Treuler. »Ob ich recht habe oder 
nicht, wird sich ja dann feststellen lassen. Beginnen wir von 
vorn. Du hattest dich also am Waldrande bequem hingelagert?« 

»Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Und geschlafen?« 

»Richtig, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Warum? Du wolltest doch nach Mägendorf.« 

»Ich war müde, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Weshalb hast du denn den Briefträger nach dem Polizisten in 
Mägendorf ausgefragt?« 

»Um mich zu erkundigen, Herr Polizeiwachtmeister.« 


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»Was wolltest du wissen?« 

»Mein Patent war nicht erneuert. Da wollte ich wissen, wie es 
um die polizeilichen Verhältnisse in Mägendorf stünde.« 

»Und wie stand es um diese polizeilichen Verhältnisse?« 

»Ich erfuhr, in Mägendorf sei ein Stellvertreter. Da fürchtete ich 
mich, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Ich bin auch ein Stellvertreter«, erklärte der Polizist trocken. 
»Vor mir fürchtest du dich auch?« 

»Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Aus diesem Grunde wolltest du auch nicht mehr ins Dorf?« 
»Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Das ist gar keine so üble Version der Geschichte«, sagte 
Treuler anerkennend, »aber vielleicht gibt es noch eine andere 
Version, die nur den Vorzug hätte, wahr zu sein.« 

»Ich habe die Wahrheit gesagt, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Wolltest du nicht vielmehr vom Briefträger erfahren, ob ein 
Polizist in der Nähe sei oder nicht?« 

Der Hausierer schaute Treuler mißtrauisch an. »Was wollen Sie 
damit sagen, Herr Polizeiwachtmeister?« 

»Nun«, antwortete Treuler gemächlich, »du wolltest dich vor 
allem beim Briefträger über die Abwesenheit der Polizei im 
Rotkehlertälchen vergewissern, weil du auf das Mädchen 
gewartet hast, denke ich.« 

Der Hausierer starrte Treuler entsetzt an. »Ich habe doch das 
Mädchen nicht gekannt, Herr Polizeiwachtmeister«, schrie er 
verzweifelt, »und selbst wenn ich es gekannt hätte, könnte ich 
es nicht getan haben. Ich befand mich ja nicht allein im 
Tälchen. Die Bauernfamilie war ja auf dem Felde. Ich bin kein 
Mörder. Glauben Sie mir doch!« 

»Ich glaube dir ja«, begütigte ihn Treuler, »aber ich muß deine 
Geschichte überprüfen, das mußt du doch einsehen. Du hast 
erzählt, du seiest nach deiner Ruhepause in den Wald 
gegangen, um dann nach Zürich zurückzukehren?« 


- 38 - 


»Es kam ein Unwetter«, erklärte der Hausierer, »da wollte ich 
die Abkürzung nehmen, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Dabei bist du auf die Leiche gestoßen?« 

»Ja.« 

»Ohne die Leiche zu berühren?« 

»Richtig, Herr Polizeiwachtmeister.« 

Treuler schwieg. Obgleich ich das Gesicht des Hausierers nicht 
sah, fühlte ich seine Angst. Er tat mir leid. Doch war ich von 
seiner Schuld mehr und mehr überzeugt, wenn auch vielleicht 
nur, weil ich endlich den Schuldigen zu finden hoffte. 

»Wir haben dir deine Kleider weggenommen, von Gunten, und 
dir andere gegeben. Kannst du dir denken, weshalb?« fragte 
Treuler. 

»Weiß nicht, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Um eine Benzidin-Probe vorzunehmen. Weißt du, was das ist, 
eine Benzidin-Probe?« 

»Nein, Herr Polizeiwachtmeister«, antwortete der Hausierer 
hilflos. 

»Eine chemische Probe, um Blutspuren festzustellen«, erklärte 
Treuler in gespenstischer Gemütlichkeit. »Wir haben an deinem 
Kittel Blut festgestellt, von Gunten. Es stammt von dem 
Mädchen.« 

»Weil ... weil ich über die Leiche stolperte, Herr 
Polizeiwachtmeister«, stöhnte von Gunten. »Es war 
schrecklich.« 

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. 

»Und das hast du uns natürlich nur aus Angst verschwiegen?« 
»Jawohl, Herr Polizeiwachtmeister.« 

»Und nun sollen wir dir aufs neue glauben?« 

»Ich bin nicht der Mörder, Herr Polizeiwachtmeister«, flehte der 
Hausierer verzweifelt, »glauben Sie mir doch. Holen Sie Herrn 
Doktor Matthäi, der weiß, daß ich die Wahrheit sage. Ich bitte 
Sie.« 


- 39 - 


»Doktor Matthäi hat nichts nnehr nnit diesenn Fall zu tun«, 
antwortete Treuler. »Erfliegt morgen nach Jordanien.« 

»Nach Jordanien«, flüsterte von Gunten. »Das wußte ich 
nicht.« 

Er starrte auf den Fußboden und schwieg. Es war totenstill im 
Zimmer, man hörte nur das Ticken der Uhr und manchmal, von 
der Straße her, ein Auto. 

Nun griff Henzi ein. Zuerst schloß er das Fenster, dann setzte 
er sich hinter Matthäis Schreibtisch, freundlich und 
zuvorkommend, nur stellte er die Schreibtischlampe so, daß ihr 
Licht auf den Hausierer fiel. 

»Regen Sie sich nicht auf, Herr von Gunten«, sagte der 
Leutnant überaus höflich, »wir wollen Sie in keiner Weise 
quälen, wir sind nur bemüht, die Wahrheit zu erfahren. Deshalb 
müssen wir uns an Sie wenden. Sie sind der wichtigste Zeuge. 
Sie müssen uns helfen.« 

»Jawohl, Herr Doktor«, antwortete der Hausierer und schien 
wieder etwas Mut zu fassen. Henzi stopfte sich eine Pfeife. 
»Was rauchen Sie, von Gunten?« 

»Zigaretten, Herr Doktor.« 

»Geben Sie ihm eine, Treuler.« 

Der Hausierer schüttelte den Kopf. Er starrte auf den Boden. 
Das Licht blendete ihn. 

»Stört Sie die Lampe?« fragte Henzi freundlich. 

»Sie scheint mir direkt in die Augen.« 

Henzi stellte den Schirm der Schreibtischlampe anders ein. »Ist 
es so besser?« 

»Besser«, antwortete von Gunten leise. Seine Stimme klang 
dankbar. 

»Sagen Sie mal, von Gunten, was verkaufen Sie eigentlich so 
für Gegenstände? Putztücher?« begann Henzi. 

»Ja, Putztücher auch.« Der Haussierer sagte es zögernd. Er 
wußte nicht, was diese Frage wollte. 

»Und weiter?« 


- 40 - 


»Schnürsenkel, Herr Doktor. Zahnbürsten. Zahnpasta. Seife. 
Rasiercreme.« 

» Rasierklingen ?« 

»Auch, Herr Doktor.« 

»Welche Marke?« 

»Gillette.« 

»Ist dies alles, von Gunten?« 

»Ich glaube, Herr Doktor.« 

»Schön. Doch ich glaube. Sie haben einiges vergessen«, sagte 
Henzi und hantierte an seiner Pfeife herum. »Sie will nicht 
ziehen«, meinte er, und dann fuhr er wie beiläufig fort: »Zählen 
Sie den Rest Ihrer Sächelchen ruhig auf, von Gunten. Wir 
haben Ihren Korb genau untersucht.« 

Der Hausierer schwieg. 

»Nun?« 

»Küchenmesser, Herr Doktor«, sagte der Hausierer leise und 
traurig. Schweißperlen glänzten auf seinem Nacken. Henzi 
blies eine Rauchwolke um die andere, ruhig, gemächlich, ein 
freundlicher junger Herr, voller Wohlwollen. 

»Weiter, von Gunten, was noch, außer Küchenmessern?« 
»Rasiermesser.« 

»Warum zögerten Sie, das zuzugeben?« 

Der Hausierer schwieg. Henzi streckte scheinbar gedankenlos 
die Hand aus, als wollte er sich wieder mit der Lampe 
beschäftigen. Er nahm jedoch die Hand wieder fort, als von 
Gunten zusammenzuckte. Der Wachtmeister starrte den 
Hausierer unverwandt an. Er rauchte eine Zigarette um die 
andere. Dazu kam Henzis Pfeifenrauch. Die Luft im Zimmer war 
zum Ersticken. Ich hätte am liebsten die Fenster geöffnet. Aber 
die geschlossenen Fenster gehörten zur Methode. 

»Das Mädchen wurde mit einem Rasiermesser getötet«, stellte 
Henzi nun diskret und wie zufällig fest. Schweigen. Der 
Hausierer saß zusammengesunken, leblos auf seinem Sessel. 


- 41 - 


»Lieber von Gunten«, fuhr Henzi fort, indenn er sich 
zurücklehnte, »reden wir unter Männern. Wir brauchen uns 
nichts vorzumachen. Ich weiß, daß Sie den Mord begangen 
haben. Aber ich weiß auch, daß Sie ebenso erschrocken über 
die Tat sind wie ich, wie wir alle. Es ist einfach über Sie 
gekommen. Sie wurden auf einmal wie ein Tier, Sie überfielen 
und töteten das Mädchen, ohne daß Sie wollten, und ohne daß 
Sie anders konnten. Etwas war stärker als Sie. Und als Sie 
wieder zu sich kamen, von Gunten, waren Sie maßlos 
erschrocken. Sie liefen nach Mägendorf, weil Sie sich stellen 
wollten, doch jetzt haben Sie den Mut verloren. Den Mut zum 
Geständnis. Sie müssen diesen Mut nun wieder finden, von 
Gunten. Und wir wollen Ihnen dabei helfen.« 

Henzi schwieg. Der Hausierer schwankte auf seinem 
Bürosessel ein wenig. Es schien, als bräche er gleich 
zusammen. 

»Ich bin Ihr Freund, von Gunten«, behauptete Henzi, »nützen 
Sie diese Chance.« 

»Ich bin müde«, stöhnte der Hausierer. 

»Das sind wir alle«, antwortete Henzi. »Wachtmeister Treuler, 
verschaffen Sie uns Kaffee und später Bier. Auch für unseren 
Gast von Gunten, wir sind fair bei der Kantonspolizei.« 

»Ich bin unschuldig, Kommissär«, flüsterte der Hausierer 
heiser, »ich bin unschuldig.« 

Das Telephon klingelte; Henzi meldete sich, hörte aufmerksam 
hin, hängte auf, lächelte. 

»Sagen Sie mal, von Gunten, was haben Sie eigentlich gestern 
zu Mittag gegessen?« fragte er gemächlich. 

»Bernerplatte.« 

»Schön, und was noch?« 

»Käse zum Dessert.« 

»Emmentaler, Greyerzer?« 

»Tilsiter und Gorgonzola«, antwortete von Gunten und wischte 
sich den Schweiß aus den Augen. 


- 42 - 


»Man ißt gut bei Hausierern«, antwortete Henzi. »Und weiter 
haben Sie nichts gegessen?« 

»Nichts.« 

»Ich würde scharf nachdenken«, ermahnte ihn Henzi. 
»Schokolade«, kam es von Gunten in den Sinn. 

»Sehen Sie, doch noch etwas«, nickte ihm Henzi aufmunternd 
zu. »Wo haben Sie die gegessen?« 

»Am Waldrand«, sagte der Hausierer und blickte Henzi 
mißtrauisch und müde an. 

Der Leutnant löschte die Schreibtischlampe aus. 

Nur noch die Deckenlampe leuchtete schwach durch den 
raucherfüllten Raum. 

»Ich habe soeben den Bericht vom Gerichtsmedizinischen 
Institut bekommen, von Gunten«, erklärte er bedauernd. »Das 
Mädchen wurde seziert. In seinem Magen hat man Schokolade 
nachgewiesen.« 

Nun war auch ich von der Schuld des Hausierers überzeugt. 
Sein Geständnis war nur noch eine Frage der Zeit. Ich nickte 
Henzi zu und verließ den Raum. 

Ich hatte mich nicht geirrt. Am andern Morgen, an einem 
Samstag, rief mich Henzi um sieben Uhr an. Der Hausierer 
habe gestanden. Um acht war ich im Büro. Henzi befand sich 
immer noch in Matthäis ehemaligem Arbeitszimmer. Er schaute 
zum offenen Fenster hinaus und wandte sich mir müde zu, 
grüßte. Am Boden Bierflaschen, die Aschenbecher überfüllt. 
Sonst war niemand mehr im Raum. 

»Ein ausführliches Geständnis?« fragte ich. 

»Das wird er noch ablegen«, antwortete Henzi. »Hauptsache, 
er hat den Lustmord gestanden.« 

»Ich will hoffen, daß korrekt vorgegangen wurde«, brummte ich. 
Das Verhör hatte über zwanzig Stunden gedauert. Das war 
natürlich nicht erlaubt; aber wir von der Polizei können uns 
schließlich nicht immer nach den Vorschriften richten. 


- 43 - 


»Es wurden sonst keine unerlaubten Methoden angewandt, 
Kommandant«, erklärte Henzi. 

Ich ging in die »Boutique« und ließ den Hausierer vorführen. Er 
konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten und wurde vom 
Polizisten, der ihn brachte, gestützt; er setzte sich aber nicht, 
als ich ihn dazu aufforderte. 

»Von Gunten«, sagte ich unwillkürlich mit einem freundlichen 
Ton in der Stimme, »wie ich höre, haben Sie gestanden, die 
kleine Gritli Moser ermordet zu haben.« 

»Ich habe das Mädchen getötet«, antwortete der Hausierer so 
leise, daß ich ihn kaum verstehen konnte, und starrte auf den 
Boden. »Lassen Sie mich nun in Ruhe.« 

»Gehen Sie jetzt schlafen, von Gunten«, sagte ich, »wir wollen 
später weiterreden.« 

Man führte ihn hinaus. In der Türe begegnete er Matthäi. Der 
Hausierer blieb stehen. Er atmete schwer. Sein Mund öffnete 
sich, als wollte er etwas sagen, doch dann schwieg er. Er 
blickte nur Matthäi an, der etwas verlegen Platz machte. 

»Geh«, sagte der Polizist und führte von Gunten weg. 

Matthäi betrat die »Boutique«, schloß die Türe hinter sich. Ich 
steckte mir eine Bahianos in Brand. 

»Nun, Matthäi, was sagen Sie dazu?« 

»Der arme Kerl wurde über zwanzig Stunden lang verhört?« 

»Diese Methode hat Henzi von Ihnen übernommen. Sie waren 
in Ihren Verhören auch so hartnäckig«, entgegnete ich. »Aber 
seinen ersten selbständigen Fall führte er eigentlich ganz 
tüchtig, finden Sie nicht?« 

Matthäi gab mir keine Antwort. 

Ich ließ zwei Kaffee-Creme kommen und Gipfel. 

Wir hatten beide ein schlechtes Gewissen. Der heiße Kaffee 
besserte unsere Stimmung nicht. 

»Ich habe das Gefühl«, erklärte Matthäi endlich, »daß von 
Gunten sein Geständnis widerrufen wird.« 


- 44 - 


»Möglich«, erwiderte ich düster, »dann werden wir ihn eben 
aufs neue bearbeiten.« 

»Sie halten ihn für schuldig?« fragte er. 

»Sie nicht?« fragte ich zurück. 

Matthäi zögerte: »Doch, eigentlich auch«, antwortete er ohne 
Überzeugung. 

Durch das Fenster flutete der Morgen. Stumpfes Silber. Vom 
Sihiquai her drangen die Geräusche der Straße, und aus der 
Kaserne marschierten Soldaten. 

Dann erschien Henzi. Er trat ein, ohne anzuklopfen. 

»Von Gunten hat sich erhängt«, meldete er. 

Die Zelle befand sich am Ende des großen Korridors. Wir 
rannten hin. Zwei Mann beschäftigten sich schon mit dem 
Hausierer. Er lag auf dem Boden. Man hatte ihm das Hemd 

aufgerissen; die behaarte Brust lag unbeweglich. Im Fenster 
baumelte noch der Hosenträger. 

»Es nützt nichts mehr«, meinte einer der Polizisten. »Der Mann 
ist tot.« 

Ich steckte meine erloschene Bahianos wieder in Brand, und 
Henzi nahm eine Zigarette. 

»Damit wäre der Fall Gritli Moser erledigt«, stellte ich fest und 
kehrte müde durch den endlosen Korridor in mein Büro zurück. 
»Und Ihnen, Matthäi, wünsche ich einen angenehmen Flug 
nach Jordanien.« 

Doch als gegen zwei Uhr nachmittags Feiler mit dem 
Dienstwagen ins Urban kam, zum letztenmal, um Matthäi nach 
dem Flughafen zu bringen, und als die Koffer schon aufgeladen 
waren, meinte der Kommissär, sie hätten Zeit, er solle den 
Umweg über Mägendorf nehmen. Feiler gehorchte, fuhr durch 
die Wälder. Sie erreichten den Dorfplatz, als das Totengeleit 
schon heranzog, ein langer Zug schweigender Menschen. Eine 
große Menge aus den umliegenden Dörfern und auch aus der 
Stadt war herbeigeströmt, der Beerdigung beizuwohnen. Die 
Zeitungen hatten den Tod von Guntens schon berichtet; 
allgemein war man erleichtert. Die Gerechtigkeit hatte gesiegt. 


- 45 - 


Matthäi hatte den Wagen verlassen und stand mit Feiler 
zwischen Kindern der Kirche gegenüber. Der Sarg war auf 
einem Fuhrwerk aufgebahrt, das zwei Pferde zogen, und war 
von weißen Rosen umgeben. Hinter dem Sarg folgten die 
Kinder des Dorfes, immer zu zweit mit einem Kranze, geführt 
von der Lehrerin, dem Lehrer, dem Pfarrer, die Mädchen in 
weißen Kleidern. Dann die Eltern des Gritli Moser, zwei 
schwarze Gestalten. Die Frau blieb stehen und sah den 
Kommissär an. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ihre Augen waren 
leer. 

»Sie haben Ihr Versprechen gehalten«, sagte sie leise, aber so 
exakt, daß der Kommissär es hörte. »Ich danke Ihnen.« 

Dann schritt sie weiter. Ungebeugt, stolz neben einem 
gebrochenen, auf einmal alten Manne. 

Der Kommissär ließ noch den ganzen Zug an sich 
vorbeiziehen, den Gemeindepräsidenten, Vertreter der 
Regierung, Bauern, Arbeiter, Hausfrauen, Töchter, alle in ihren 
besten, feierlichsten Kleidern. Alles war stumm in der 
nachmittäglichen Sonne, auch bei den Zuschauern regte sich 
nichts, nur das weite Hallen der Kirchenglocken, das Rollen des 
Fuhrwerks und die unzähligen Schritte der Menschen auf dem 
harten Pflaster der Dorfstraße waren hörbar. 

»Nach Kloten«, sagte Matthäi, und sie stiegen wieder in den 
Dienstwagen. 

Nachdem er sich von Feiler verabschiedet und die Paßkontrolle 
durchschritten hatte, kaufte er in der Wartehalle die »Neue 
Zürcher Zeitung«. Das Bild von Guntens war darin, der als 
Mörder des Gritli Moser bezeichnet war, aber auch das Bild des 
Kommissärs mit einer Notiz über seine ehrenvolle Berufung. 
Ein Mann, der den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hatte. 
Doch als er auf die Flugpiste trat, den Regenmantel über dem 
Arm, bemerkte er, daß die Terrasse des Gebäudes voll Kinder 
war. Es waren Schulklassen, die den Flughafen besuchten. Es 
waren Mädchen und Buben in farbigen Sommerkleidern; es gab 
ein Winken mit kleinen Fahnen und Taschentüchern, ein Jubeln 
und Staunen über das Aufsteigen und Sinken der silbernen 


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Riesenapparate. Der Konnmissär stutzte, schritt dann weiter der 
wartenden Swissair-Maschine zu. Als er sie erreichte, waren die 
andern Passagiere schon eingestiegen. Die Stewardeß, die die 
Reisenden zur Maschine geführt hatte, hielt die Hand hin, um 
Matthäis Karte in Empfang zu nehmen, doch der Kommissär 
wandte sich aufs neue um. Er schaute auf die Kinderschar, die 
glücklich und neidisch zu der startbereiten Maschine 
hinüberwinkte. 

»Fräulein«, sagte er, »ich fliege nicht« und kehrte ins 
Flughafengebäude zurück, schritt unter der Terrasse mit der 
unermeßlichen Schar der Kinder hindurch dem Ausgang zu. 

Ich empfing Matthäi erst am Sonntagmorgen, doch nicht in der 
»Boutique«, sondern im offiziellen Büro mit dem gleichsam 
amtlichen Blick auf den Sihiquai. An den Wänden Gubler, 
Morgenthaler, Hunziker, anerkannte Zürcher Maler. Ich war 
verärgert, es hatte Scherereien gegeben; ein Anruf des 
politischen Departements war gekommen von einem Herrn, der 
partout nur französisch sprechen wollte; die jordanische 
Botschaft hatte protestiert und der Regierungsrat Auskünfte 
verlangt, die ich nicht geben konnte, weil ich das Vorgehen 
meines einstigen Untergebenen nicht begriff. »Nehmen Sie 
Platz, Herr Matthäi«, sagte ich. Meine Förmlichkeit stimmte ihn 
wohl etwas traurig. Wir setzten uns. Ich rauchte nicht und traf 
keine Anstalten dazu. Das beunruhigte ihn. »Die 
Eidgenossenschaft«, fuhr ich fort, »schloß über die Abtretung 
eines Polizeifachmanns an den jordanischen Staat ein 
Abkommen, des weiteren schlössen Sie, Herr Doktor Matthäi, 
einen Vertrag mit Jordanien. Durch Ihre Nichtabreise wurden 
diese Verträge gebrochen. Ich brauche wohl von Jurist zu Jurist 
nicht deutlicher zu werden.« 

»Das ist nicht nötig«, sagte Matthäi. 

»Ich bitte Sie deshalb, so schnell wie möglich doch noch nach 
Jordanien zu reisen«, schlug ich vor. 

»Ich reise nicht«, entgegnete Matthäi. 

»Weshalb?« 

»Der Mörder der kleinen Gritli Moser ist noch nicht gefunden.« 


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»Sie halten den Hausierer für unschuldig?« 

»Ja.« 

»Es liegt schließlich sein Geständnis vor.« 

»Er muß die Nerven verloren haben. Das lange Verhör, 

die Verzweiflung, das Gefühl der Verlassenheit. Und ich bin 
nicht schuldlos daran«, fuhr er leise fort. »Der Hausierer hat 
sich an mich gewandt, und ich habe ihm nicht geholfen. Ich 
wollte nach Jordanien.« 

Die Situation war merkwürdig. Noch am Vortage hatten wir 
ungezwungen miteinander verkehrt, nun saßen wir uns förmlich 
und steif gegenüber, beide im Sonntagsanzug. 

»Ich bitte Sie, mir den Fall noch einmal zu übergeben, 
Kommandant«, sagte Matthäi. 

»Darauf kann ich nicht eingehen«, antwortete ich, »unter keinen 
Umständen; Sie sind nicht mehr bei uns, Herr Doktor Matthäi.« 

Der Kommissär starrte mich überrascht an. 

»Ich bin entlassen?« 

»Sie schieden aus dem Dienste der Kantonspolizei, weil Sie 
den Posten in Jordanien antreten wollten«, erklärte ich ruhig. 
»Daß Sie Ihren Vertrag gebrochen haben, ist Ihre Sache. Aber 
wenn wir Sie nun wieder einstellen, würde das bedeuten, daß 
wir Ihren Schritt billigen. Sie werden verstehen, daß dies 
unmöglich ist.« 

»Ach so«, antwortete Matthäi. »Ich verstehe.« 

»Das läßt sich leider nicht mehr ändern«, entschied ich. 

Wir schwiegen. 

»Als ich durch Mägendorf kam, auf meinem Wege zum 
Flugplatz, waren dort Kinder«, sagte Matthäi leise. 

»Was wollen Sie damit sagen?« 

»Im Leichenzug lauter Kinder.« 

»Das ist doch nur natürlich.« 

»Und auch beim Flugplatz waren Kinder, ganze Schulklassen.« 
»Nun?« Ich betrachtete Matthäi verwundert. 


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»Angenommen, ich habe recht, angenommen, der Mörder des 
Gritli Moser lebt noch, wären dann nicht andere Kinder in 
Gefahr?« fragte Matthäi. 

»Gewiß«, entgegnete ich ruhig. 

»Wenn diese Möglichkeit der Gefahr besteht«, fuhr Matthäi 
eindringlich fort, »ist es Pflicht der Polizei, die Kinder zu 
schützen und ein neues Verbrechen zu verhüten.« 

»Deshalb sind Sie also nicht abgeflogen«, fragte ich langsam, 
»um die Kinder zu schützen.« 

»Deshalb«, antwortete Matthäi. 

Ich schwieg eine Weile. Ich sah nun den Fall klarer und begann 
Matthäi zu begreifen. Die Möglichkeit, daß Kinder in Gefahr 
seien, sagte ich dann, müsse man hinnehmen. Falls Matthäi mit 
seiner Vermutung recht habe, könne man nur hoffen, daß sich 
der wirkliche Mörder irgend einmal verrate oder daß er, im 
schlimmsten Fall, bei seinem nächsten Verbrechen für uns 
brauchbare Spuren hinterlassen werde. Es klinge zynisch, was 
ich sage, aber das sei es nicht. Es sei nur schrecklich. Die 
Macht der Polizei habe Grenzen und müsse Grenzen haben. 
Zwar sei alles möglich, auch das Unwahrscheinlichste, doch wir 
müßten von dem aus gehen, was wahrscheinlich sei. Wir 
könnten nicht sagen, von Gunten sei sicher schuldig, das 
könnten wir eigentlich nie; aber wir könnten sagen, er sei 
wahrscheinlich schuldig. Wenn wir keinen Unbekannten 
erfinden wollten, sei der Hausierer der einzige, der in Frage 
komme. Er habe schon Sittlichkeitsdelikte begangen, führe 
Rasiermesser mit sich und Schokolade, habe Blut an den 
Kleidern gehabt, ferner sei er auch in Schwyz und Sankt Gallen 
seinem Gewerbe nachgegangen, also dort, wo die zwei andern 
Morde geschehen waren, dazu habe er noch ein Geständnis 
abgelegt und Selbstmord verübt: Nun an seiner Schuld zu 
zweifeln, sei reiner Dilettantismus. Der gesunde 
Menschenverstand sage uns, von Gunten sei der Mörder 
gewesen. Daß der gesunde Menschenverstand sich irren 
könne, daß wir menschlich seien, sei unser Risiko. Das müßten 
wir auf uns nehmen. Auch stelle der Mord an Gritli Moser leider 


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nicht das einzige Verbrechen dar, mit dem wir uns zu 
beschäftigen hätten. Eben sei das Überfallkommando nach 
Schlieren ausgerückt. Dazu vier schwere Einbrüche diese 
Nacht. Wir könnten uns den Luxus einer nochmaligen 
Untersuchung schon rein technisch gar nicht mehr leisten. Wir 
könnten nur das Mögliche tun und das hätten wir getan. Kinder 
seien immer in Gefahr. Man zähle über zweihundert 
Sittlichkeitsverbrechen im Jahr. Allein im Kanton. Wir könnten 
die Eltern aufklären, die Kinder warnen, das hätten wir alles 
getan, aber wir könnten nicht das Polizeinetz so dicht knüpfen, 
daß keine Verbrechen mehr geschähen. Verbrechen 
geschähen immer, nicht weil es zu wenig Polizisten, sondern 
weil es überhaupt Polizisten gebe. Wenn wir nicht nötig wären, 
gäbe es auch keine Verbrechen. Das müßten wir uns vor 
Augen halten. Wir müßten unsere Pflicht tun, da habe Matthäi 
recht, aber unsere erste Pflicht sei es, in unseren Grenzen zu 
bleiben, sonst würden wir nur einen Polizeistaat errichten. 

Ich schwieg. 

Draußen begannen die Kirchenglocken zu läuten. 

»Ich kann verstehen, wenn Ihre persönliche - Situation - 
schwierig geworden ist. Sie sind zwischen Stuhl und Bank 
geraten«, bemerkte ich abschließend höflich. 

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor«, sagte Matthäi. »Ich werde 
mich vorerst um den Fall Gritli Moser kümmern. Privat.« 

»Geben Sie diese Angelegenheit lieber auf«, riet ich. 

»Ich denke nicht daran«, antwortete er. 

Ich zeigte meinen Unwillen nicht. 

»Darf ich Sie dann nur bitten, uns damit nicht mehr zu 
belästigen?« fragte ich, indem ich mich erhob. 

»Wenn Sie es wünschen«, sagte Matthäi. Worauf wir uns 
voneinander verabschiedeten, ohne uns die Hand zu reichen. 

Es fiel Matthäi schwer, an seinem ehemaligen Büro vorbei das 
leere Polizeigebäude verlassen zu müssen. Man hatte das 
Schild an der Türe schon geändert, und Feiler, den er traf und 
der sich auch sonntags hier herumtrieb, war verlegen. Er grüßte 


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kaum, murmelte nur etwas vor sich hin. Matthäi kam sich wie 
ein Gespenst vor, doch war ihm vor allem der Umstand lästig, 
daß er nun keinen Dienstwagen zur Verfügung hatte. Er war 
entschlossen, so schnell wie möglich nach Mägendorf 
zurückzukehren; aber diesen Vorsatz konnte er nun nicht so 
ohne weiteres ausführen, war doch die Reise dorthin zwar nicht 
weit, jedoch kompliziert. Er mußte den Achter nehmen und 
dann in den Bus umsteigen; im Tram war auch Treuler, der mit 
seiner Frau zu den Schwiegereltern fuhr; er starrte den 
Kommissär verblüfft an, stellte aber keine Fragen; überhaupt 
begegnete Matthäi lauter Bekannten, so einem Professor von 
der ETH und einem Kunstmaler. Er gab nur vage Auskunft über 
seine Nichtabreise; die Situation war jedesmal peinlich, hatte 
man doch seine »Beförderung« und Abreise gefeiert; er kam 
sich gespenstisch vor, wie ein Wiederauferstandener. 

In Mägendorf hatte die Kirche ausgeläutet. Die Bauern standen 
in ihren Sonntagsgewändern auf dem Dorfplatz oder begaben 
sich gruppenweise in den »Hirschen«. Es war frischer 
geworden als in den Vortagen, gewaltige Wolkenzüge 
wanderten von Westen her. Beim Moosbach spielten die 
Burschen schon Fußball; nichts deutete darauf, daß unweit vom 
Dorfe vor wenigen Tagen ein Verbrechen begangen worden 
war. Alles war fröhlich, irgendwo sang man »Am Brunnen vor 
dem Tore«. Vor einem großen Bauernhause mit Riegelmauern 
und einem mächtigen Dach spielten Kinder Verstecken; ein 
Knabe zählte mit lauter Stimme bis zehn, und die andern 
stoben davon. Matthäi sah ihnen zu. 

»Mann«, sagte eine leise Stimme neben ihm. Er schaute sich 
um. 

Zwischen einer Scheiterbeige und einer Gartenmauer stand ein 
kleines Mädchen in blauem Rock. Braune Augen, braune 
Haare. Ursula Fehlmann. 

»Was willst du?« fragte der Kommissär. 

»Stell dich vor mich«, flüsterte das Mädchen, »damit man mich 
nicht findet.« 


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Der Kommissär stellte sich vor das Mädchen. »Ursula«, sagte 
er. 

»Du mußt nicht so laut reden«, flüsterte das Mädchen, »sonst 
hört man, daß du mit jemandem sprichst.« 

»Ursula«, flüsterte nun auch der Kommissär. »Das mit dem 
Riesen glaube ich nicht.« 

»Was glaubst du nicht?« 

»Daß dem Gritli Moser ein Riese begegnet ist, groß wie ein 
Berg.« 

»Den gibt es aber.« 

»Hast du denn einen gesehen?« 

»Nein, aber Gritli hat ihn gesehen. Aber sei jetzt still.« 

Ein rothaariger Junge mit Sommersprossen schlich vom Hause 
heran. Es war der Junge, der suchen mußte. Er blieb vor dem 
Kommissär stehen, schlich dann nach der andern Seite des 
Bauernhauses. Das Mädchen kicherte leise. »Er hat mich nicht 
bemerkt.« 

»Gritli hat dir ein Märchen erzählt«, flüsterte der Kommissär. 

»Nein«, sagte das Mädchen, »jede Woche hat der Riese aufs 
Gritli gewartet und ihm Igel gegeben.« 

»Wo denn?« 

»Im Rotkehlertälchen«, antwortete Ursula. »Und es hat ihn 
gezeichnet. Also muß es ihn doch geben. Und auch die 
Igelein.« 

Matthäi stutzte. 

»Es hat den Riesen gezeichnet?« 

»Die Zeichnung hängt im Schulzimmer«, sagte das Mädchen. 
»Geh auf die Seite.« Und schon hatte es sich zwischen der 
Scheiterbeige und Matthäi durchgezwängt, sprang auf das 
Bauernhaus zu und erreichte den Türpfosten, den es 
anzuschlagen galt, vor dem hinter dem Hause hervoreilenden 
Knaben mit Jubelgeschrei. 

Die Nachrichten, die ich am Montagmorgen erhielt, waren 
seltsam und beunruhigend. Zuerst beschwerte sich der 


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Gemeindepräsident von Mägendorf telephonisch, Matthäi sei 
ins Schulhaus eingedrungen und habe eine Zeichnung des 
ermordeten Gritli Moser entwendet; er verbitte sich weitere 
Schnüffeleien der Kantonspolizei in seinem Dorfe, sie hätten 
nun Ruhe nötig nach all den Schrecken; abschließend und nicht 
sonderlich höflich teilte er mir noch mit, daß er Matthäi mit 
einem Hofhund aus dem Dorf jagen werde, wenn er sich dort 
noch einmal sichtbar mache. Dann beklagte sich Henzi, er habe 
mit Matthäi eine Auseinandersetzung gehabt, peinlicherweise in 
der »Kronenhalle«; sein ehemaliger Vorgesetzter sei sichtlich 
betrunken gewesen, habe einen Liter Reserve du Patron nur so 
hinuntergestürzt und darauf Kognak verlangt, ihn dazu einen 
Justizmörder genannt; seine Frau, die Hottinger, sei sehr 
angewidert gewesen. Das war aber noch nicht alles. Von Feiler 
vernahm ich nach dem Morgenrapport, ausgerechnet ein 
Subjekt von der Stadtpolizei habe ihm berichtet, Matthäi sei in 
verschiedenen Bars gesichtet worden und logiere nun im Hotel 
Rex. Außerdem wurde mitgeteilt, daß Matthäi nun auch rauche. 
Parisiennes. Der Mann war wie verändert, wie ausgewechselt, 
als hätte er über Nacht einen anderen Charakter bekommen. 
Ich dachte an einen bevorstehenden Nervenzusammenbruch 
und rief einen Psychiater an, der öfters für uns Gutachten 
verfertigte. 

Zu meiner Überraschung antwortete der Arzt, Matthäi habe sich 
bei ihm für den Nachmittag angemeldet, worauf ich ihn über 
das Vorgefallene informierte. 

Darauf schrieb ich der jordanischen Gesandtschaft. Ich meldete 
Matthäi krank und bat um Urlaub, in zwei Monaten werde der 
Kommissär in Amman erscheinen. 

Die Privatklinik lag weit von der Stadt, beim Dorfe Röthen. 
Matthäi hatte die Bahn genommen und mußte eine größere 
Strecke gehen. Er war zu ungeduldig gewesen, auf das 
Postauto zu warten, das ihn denn auch bald überholte, und 
dem er leicht verärgert nachsah. Er kam durch kleine 
Bauernweiler. Am Straßenrand waren spielende Kinder, und die 
Bauern arbeiteten auf den Feldern. Der Himmel war verhängt, 
silbrig. Es war wieder kalt geworden, die Temperatur rutschte 


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dem Nullpunkt zu, glücklicherweise ohne ihn zu erreichen. 
Matthäi wanderte die Hügel entlang und bog nach Röthen in 
den Weg über die Ebene ein zur Heilanstalt. Als erstes fiel ihm 
ein gelbes Gebäude mit einem hohen Schornstein auf. Man 
schien einer düsteren Fabrikanlage entgegenzugehen. Aber 
bald wurde das Bild freundlicher. Zwar war das Hauptgebäude 
immer noch von Buchen und Pappeln verdeckt. Doch bemerkte 
er Zedern und eine riesenhafte Wellingtonia. Er trat in den Park. 
Der Weg verzweigte sich. Matthäi folgte einer Tafel: Direktion. 
Durch die Bäume und Büsche schimmerte ein kleiner See, 
doch war es vielleicht auch nur ein Nebelstreifen. Totenstille. 
Matthäi hörte nur seine Schritte auf dem Kies knirschen. Später 
war das Geräusch eines Rechens zu vernehmen. Ein Bursche 
war mit dem Kiesweg beschäftigt. Er führte seine Bewegungen 
langsam und gleichmäßig aus. Matthäi blieb unschlüssig 
stehen. Er wußte nicht, wohin er sich wenden mußte; eine neue 
Tafel sah er nicht mehr. 

»Können Sie mir sagen, wo sich die Direktion befindet?« 
wandte er sich an den jungen Mann. Der Bursche erwiderte 
kein Wort. Er harkte weiter, gleichmäßig, ruhig, wie eine 
Maschine, als hätte ihn niemand angesprochen, als wäre 
niemand zugegen. Sein Antlitz war ohne Ausdruck, und da 
seine Tätigkeit im Gegensatz zu seinen offenbar gewaltigen 
Körperkräften stand, wurde der Kommissär von dem Gefühl 
beschlichen, es drohe ihm Gefahr. Als könnte der Bursche auf 
einmal mit seinem Rechen losschlagen. Er fühlte sich unsicher. 
Er ging zögernd weiter und betrat einen Hof. Gleich darauf kam 
er in einen zweiten, größeren. Zu beiden Seiten waren 
Säulengänge wie in einem Kloster; doch wurde der Hof durch 
ein Gebäude abgeschlossen, das ein Landhaus zu sein schien. 
Auch hier war niemand zu finden, nur von irgendwoher drang 
eine klagende Stimme, hoch und flehend, die immer ein Wort 
wiederholte, immer wieder, ohne Unterlaß. Matthäi blieb aufs 
neue unschlüssig stehen. Eine unerklärliche Traurigkeit befiel 
ihn. Er war mutlos wie noch nie. Er drückte die Klinke eines 
alten Portales voll tiefer Risse und Schnitzereien nieder; aber 
die Türe gab nicht nach. Nur die Stimme war zu hören, immer 


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wieder die Stimme. Er schritt wie schlafend durch den 
Säulengang. In den großen Steinvasen waren rote Tulpen, in 
anderen gelbe. Doch nun hörte er Schritte; ein 
hochgewachsener alter Herr kam würdig über den Hof. 
Befremdet, leicht verwundert. Eine Schwester führte ihn. 

»Grüß Gott«, sagte der Kommissär, »ich möchte zu Professor 
Locher.« 

»Sind Sie angemeldet?« fragte die Schwester. 

»Ich werde erwartet.« 

»Gehen Sie nur in den Salon«, sagte die Schwester und wies 
auf eine Flügeltüre, »man wird kommen.« Dann schritt sie 
weiter, den alten Mann am Arm, der vor sich hin dämmerte, 
schloß eine Türe auf und verschwand mit ihm. Die Stimme 
irgendwo war immer noch zu hören. Matthäi betrat den Salon. 
Es war ein großer Raum mit antiken Möbeln, mit Fauteuils und 
einem riesigen Sofa, über dem in einem schweren goldenen 
Rahmen das Porträt eines Mannes hing. Es mußte sich um den 
Stifter des Spitals handeln. Des weiteren hingen Bilder aus 
tropischen Gegenden an den Wänden, vielleicht aus Brasilien. 
Matthäi glaubte das Hinterland von Rio de Janeiro zu erkennen. 
Er ging zur Flügeltüre. Sie führte auf eine Terrasse. Große 
Kakteen standen auf dem Steingeländer. Doch war der Park 
nicht mehr zu überblicken, der Nebel hatte sich verdichtet. 
Matthäi ahnte ein weites geschwungenes Gelände mit 
irgendeinem Monument oder Grabmal, und, drohend, 
schattenhaft, eine Silberpappel. Der Kommissär wurde 
ungeduldig. Er zündete sich eine Zigarette an; seine neue 
Passion beruhigte ihn. Er ging ins Zimmer zurück, zum Sofa, 
vor dem ein alter runder Tisch stand mit alten Büchern; Gustav 
Bonnier, Flore complete de France, Suisse et Belgique. Er 
blätterte darin; sorgfältig gezeichnete Tafeln von Blumen, 
Gräsern, sicher sehr schön, beruhigend; der Kommissär wußte 
nichts damit anzufangen. Er rauchte eine weitere Zigarette. 
Endlich kam eine Schwester, eine kleine energische Person mit 
randloser Brille. 

»Herr Matthäi?« fragte sie. 


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»Gewiß.« 

Die Schwester schaute sich um. »Haben Sie kein Gepäck?« 
Matthäi schüttelte den Kopf, wunderte sich einen Augenblick 
über die Frage. 

»Ich möchte dem Herrn Professor nur einige Fragen stellen«, 
antwortete er. 

»Darf ich bitten«, sagte die Schwester und führte den 
Kommissär durch eine kleine Türe. 

Er betrat einen kleinen, zu seinem Erstaunen eher armseligen 
Raum. Nichts wies auf einen Mediziner hin. An den Wänden 
ähnliche Bilder wie im Salon, dazu Photographien ernster 
Männer mit randloser Brille und Bart, monströsen Visagen. 
Offenbar Vorgänger. Schreibtisch und Stühle waren mit 
Büchern überladen, nur ein alter Ledersessel blieb frei. Der Arzt 
saß im weißen Mantel hinter seinen Akten. Er war klein, hager, 
vogelartig und trug ebenfalls eine randlose Brille wie die 
Schwester und die Bärtigen an der Wand. 

Randlose Brille schien hier obligatorisch, vielleicht auch ein 
Abzeichen oder Kennzeichen eines geheimen Ordens wie die 
Tonsur der Mönche, was wußte der Kommissär. 

Die Schwester zog sich zurück. Locher erhob sich, begrüßte 
Matthäi. 

»Willkommen«, sagte er etwas verlegen, »machen Sie sich's 
bequem. Etwas schäbig alles. Wir sind eine Stiftung, da 
hapert's mit den Finanzen.« 

Matthäi setzte sich in den Ledersessel. Der Arzt zündete die 
Schreibtischlampe an, so dunkel war es im Zimmer. 

»Darf ich rauchen?« fragte Matthäi. 

Locher stutzte. »Bitte«, sagte er und betrachtete Matthäi 
aufmerksam über seine staubige Brille hinweg. »Aber Sie 
rauchten doch früher nicht?« 

»Nie.« 

Der Arzt nahm einen Bogen und begann zu kritzeln, irgendeine 
Notiz offenbar. Matthäi wartete. 


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»Sie sind ann elften November 1903 geboren, nicht wahr?« 
fragte der Arzt, indem er schrieb. 

»Gewiß.« 

»Immer noch im Hotel Urban?« 

»Nun im Rex.« 

»So, nun im Rex. In der Weinbergstraße. Sie leben also stets 
noch in Hotelzimmern, mein guter Matthäi?« 

»Das scheint Sie zu verwundern?« 

Der Arzt schaute von seinen Papieren auf. 

»Mann«, sagte er, »Sie hausen nun schon dreißig Jahre in 
Zürich. Da gründen andere Familien, zeugen Nachwuchs, 
halten die Zukunft in Schwung. Führen Sie denn überhaupt kein 
Privatleben? Entschuldigen Sie, daß ich so frage.« 

»Verstehe«, antwortete Matthäi, der auf einmal alles begriff, 
auch die Frage der Schwester nach den Koffern. »Der 
Kommandant wird berichtet haben.« 

Der Arzt legte seinen Füllfederhalter sorgfältig auf die Seite. 
»Was meinen Sie damit, Verehrtester?« 

»Sie haben den Auftrag erhalten, mich zu untersuchen«, stellte 
Matthäi fest und drückte seine Zigarette aus. »Weil ich der 
Kantonspolizei nicht ganz >normal< scheine.« 

Die beiden Männer schwiegen. Draußen stand der Nebel vor 
dem Fenster, stumpf, eine gesichtslose Dämmerung, die grau 
in das kleine Zimmer voll Bücher und Aktenstöße kroch. Dazu 
Kälte, muffige Luft, vermischt mit dem Geruch irgendeines 
Medikamentes. 

Matthäi erhob sich, ging zur Türe und öffnete sie. Draußen 
standen zwei Männer in weißem Kittel, die Arme verschränkt. 
Matthäi schloß die Türe wieder. 

»Zwei Wärter. Für den Fall, daß ich Schwierigkeiten mache.« 
Locher war nicht aus der Ruhe zu bringen. 

»Hören Sie mal zu, Matthäi«, sagte er. »Ich will nun als Arzt zu 
Ihnen reden.« 

»Wie Sie wünschen«, antwortete Matthäi und setzte sich. 


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Ihm sei berichtet worden, fuhr Locher fort und nahm den 
Füllfederhalter wieder in die Hand, Matthäi habe in der letzten 
Zeit Handlungen begangen, die man nicht mehr als normal 
bezeichnen könne. Ein offenes Wort sei deshalb am Platz. 
Matthäi habe einen harten Beruf, und er werde auch hart mit 
den Menschen verfahren müssen, die in seine Sphäre gerieten, 
so müsse er denn auch ihm, dem Arzt, gerechterweise 
verzeihen, wenn er geradeheraus rede, denn auch sein Beruf 
habe ihn hart gemacht. Und mißtrauisch. Es sei schließlich 
merkwürdig, überlege er Matthäis Verhalten, eine einmalige 
Chance wie dieses Jordanien fallen zu lassen, ganz unerwartet, 
auf Knall und Fall. Dazu die fixe Idee, einen Mörder suchen zu 
wollen, den man schon gefunden habe; des weiteren dieser 
plötzliche Entschluß, zu rauchen, dieser ebenso ungewöhnliche 
Hang zur Trunksucht, allein vier Doppelkognaks nach einem 
Liter Reserve, Mensch, Mann, das sehe doch verdammt nach 
sprunghafter Charakterveränderung aus, nach Symptomen 
einer beginnenden Erkrankung. Es liege nur in Matthäis 
Interesse, sich gründlich untersuchen zu lassen, damit man ein 
ordentliches Bild gewänne, sowohl in klinischer als auch in 
psychologischer Hinsicht, und er schlage ihm deshalb vor, 
einige Tage in Röthen zu verweilen. 

Der Arzt schwieg und machte sich wieder hinter seine Papiere, 
kritzelte aufs neue. »Haben Sie hin und wieder Fieber?« 

»Nein.« 

»Sprechstörungen ? « 

»Auch nicht.« 

»Stimmen?« 

»Unsinn.« 

»Schweißausbrüche?« 

Matthäi schüttelte den Kopf. Die Dämmerung und das Gerede 
des Arztes machten ihn ungeduldig. Er suchte tastend nach 
den Zigaretten. Erfand sie endlich; das brennende Streichholz, 
welches ihm der Arzt reichte, hielt er zitternd. Vor Ärger. Die 
Situation war zu einfältig, er hätte sie voraussehen müssen und 
einen anderen Psychiater wählen sollen. Aber er liebte diesen 


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Arzt, den sie bisweilen in der Kasernenstraße mehr aus 
Gutmütigkeit als Sachverständigen beizogen; er hatte Zutrauen 
zu ihm, weil die andern Ärzte ihn gering schätzten, weil er als 
Sonderling galt und als Phantast. 

»Erregt«, stellte der Arzt fest. Beinahe freudig. »Soll ich die 
Schwester rufen? Wenn Sie schon jetzt in Ihr Zimmer...« 

»Fällt mir nicht ein«, antwortete Matthäi. »Haben Sie Kognak?« 

»Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel«, schlug der Arzt vor 
und erhob sich. 

»Ich brauche kein Beruhigungsmittel, ich brauche Kognak«, 
entgegnete der Kommissär grob. 

Der Arzt mußte eine versteckte Signalanlage bedient haben, 
denn in der Türe erschien ein Wärter. 

»Holen Sie eine Pulle Kognak und zwei Gläser aus meiner 
Wohnung«, ordnete der Arzt an, rieb sich die Hände, wohl vor 
Kälte. »Aber dalli.« 

Der Wärter verschwand. 

»Wirklich, Matthäi«, erklärte der Arzt, »Ihre Einweisung scheint 
mir dringend nötig. Sonst stehen wir vor dem prachtvollsten 
seelischen und körperlichen Zusammenbruch. Den wollen wir 
doch vermeiden, nicht wahr? Mit einigem Schneid sollte uns 
das gelingen.« 

Matthäi antwortete nichts darauf. Auch der Arzt schwieg. Nur 
einmal klingelte das Telephon, Locher nahm es ab und sagte: 
»Bin nicht zu sprechen.« Draußen vor dem Fenster war es nun 
beinahe finster, so dunkel war dieser Abend auf einmal. 

»Soll ich die Deckenbeleuchtung anzünden?« fragte der Arzt, 
nur um etwas zu sagen. 

»Nein.« 

Matthäi hatte nun seine Ruhe wieder gewonnen. Als der Wärter 
mit dem Kognak kam, goß er sich ein, trank aus, schenkte sich 
wieder ein. 

»Locher«, sagte er, »lassen Sie nun Ihre Faxen mit Mann und 
Mensch und dalli und so weiter. Sie sind Arzt. Ist es Ihnen in 


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Ihrem Beruf auch schon vorgekommen, daß Sie einen Fall nicht 
zu lösen vermochten?« 

Der Arzt schaute Matthäi erstaunt an. Er war betroffen über 
diese Frage, beunruhigt, wußte nicht, was sie sollte. 

»Die meisten meiner Fälle sind nicht zu lösen«, antwortete er 
endlich ehrlich, obwohl er im gleichen Augenblick spürte, daß er 
diese Antwort einem Patienten gegenüber, als den er Matthäi 
doch sah, nie hätte geben dürfen. 

»Das kann ich mir bei Ihrem Beruf denken«, antwortete Matthäi 
mit einer Ironie, die den Arzt traurig stimmte. 

»Sind Sie nur hierher gekommen, um mir diese Frage zu 
stellen?« 

»Auch.« 

»Was ist denn um Gottes willen mit Ihnen los? Sie sind doch 
sonst unser vernünftigster Mann?« fragte der Arzt verlegen. 

»Ich weiß nicht«, erwiderte Matthäi unsicher - »Das ermordete 
Mädchen.« 

»Gritli Moser?« 

»Ich muß immer an dieses Mädchen denken.« 

»Es läßt Ihnen keine Ruhe?« 

»Haben Sie Kinder?« fragte Matthäi. 

»Ich bin ja auch nicht verheiratet«, antwortete der Arzt leise und 
aufs neue verlegen. 

»So, auch nicht.« Matthäi schwieg düster. »Sehen Sie, 
Locher«, erklärte er dann, »ich habe genau hingeschaut und 
nicht weggeblickt wie mein Nachfolger Henzi, der Normale: Ein 
verstümmelter Leichnam lag im Laub, nur das Gesicht 
unberührt, ein Kindergesicht. Ich habe hingestarrt, im Gebüsch 
lagen noch ein roter Rock und Gebäck. Aber das war nicht das 
Fürchterliche.« 

Matthäi schwieg aufs neue. Wie erschrocken. Er war ein 
Mensch, der nie auf sich zu sprechen kam und nun doch 
gezwungen war, es einmal zu tun, weil er diesen kleinen 
vogelartigen Arzt mit der lächerlichen Brille brauchte, der ihm 


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allein weiterhelfen konnte, dem er aber dafür sein Vertrauen 
schenken mußte. 

»Sie haben sich vorhin mit Recht gewundert«, fuhr er endlich 
fort, »daß ich immer noch im Hotel wohne. Ich wollte mich nicht 
mit der Welt konfrontieren, ich wollte sie wie ein Routinier zwar 
bewältigen, aber nicht mit ihr leiden. Ich wollte ihr gegenüber 
überlegen bleiben, den Kopf nicht verlieren und sie 
beherrschen wie ein Techniker. Ich hielt den Anblick des 
Mädchens aus, doch als ich vor den Eltern stand, hielt ich es 
plötzlich nicht mehr aus, da wollte ich auf einmal fort von 
diesem verfluchten Hause im Moosbach, und so versprach ich 
bei meiner Seligkeit, den Mörder zu finden, nur um das Leid 
dieser Eltern nicht weiter sehen zu müssen, gleichgültig 
darüber, daß ich dieses Versprechen nicht halten konnte, weil 
ich doch nach Jordanien fliegen mußte. Und dann ließ ich die 
alte Gleichgültigkeit wieder in mir aufsteigen, Locher. Das war 
so scheußlich. Ich wehrte 

mich nicht für den Hausierer. Ich ließ alles geschehen. Ich 
wurde wieder die Unpersönlichkeit, die ich vorher war, >Matthäi 
am Letzten<, wie mich das Niederdorf nennt. Ich kniff wieder 
aus in die Ruhe, in die Überlegenheit, in die Form, in die 
Unmenschlichkeit, bis ich auf dem Flugplatz die Kinder sah.« 

Der Arzt schob seine Notizen weg. 

»Ich kehrte um«, sagte Matthäi. »Den Rest wissen Sie.« 

»Und nun?« fragte der Arzt. 

»Und nun bin ich hier. Weil ich nicht an die Schuld des 
Hausierers glaube und nun mein Versprechen halten muß.« 

Der Arzt erhob sich, ging zum Fenster. 

Der Wärter erschien, hinter ihm der zweite. 

»Geht in die Abteilung«, sagte der Arzt, »ich brauche euch nicht 
mehr.« 

Matthäi schenkte sich Kognak ein, lachte. »Gut, dieser Remy 
Martin.« 

Der Arzt stand noch immer beim Fenster, starrte hinaus. 


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»Wie soll ich Ihnen beistehen?« fragte er hilflos. »Ich bin kein 
Kriminalist.« Dann wandte er sich Matthäi zu. »Warum glauben 
Sie eigentlich an die Unschuld des Hausierers?« fragte er. 
»Hier.« 

Matthäi legte ein Papier auf den Tisch und faltete es sorgfältig 
auseinander. Es war eine Kinderzeichnung. Rechts unten stand 
in ungelenker Schrift »Gritli Moser«, und mit Farbstift war ein 
Mann gezeichnet. Er war groß, größer als die Tannen, die ihn 
wie merkwürdige Gräser umstanden, gezeichnet, wie Kinder 
zeichnen, Punkt, Punkt, Komma, Strich, rundherum, fertig ist 
das Angesicht. Er trug einen schwarzen Hut und schwarze 
Kleider, und aus der rechten Hand, die eine runde Scheibe war 
mit fünf Strichen, fielen einige kleine Scheibchen mit vielen 
Härchen, wie Sterne, auf ein winziges Mädchen hinunter, noch 
kleiner als die Tannen. Ganz oben, eigentlich schon im Himmel, 
stand ein schwarzes Automobil, daneben ein merkwürdiges 
Tier mit seltsamen Hörnern. 

»Diese Zeichnung stammt von Gritli Moser«, erklärte Matthäi. 
»Ich holte sie aus dem Schulzimmer.« 

»Was soll sie denn darstellen?« fragte der Arzt, indem er die 
Zeichnung hilflos betrachtete. 

»Den Igelriesen.« 

»Was ist darunter zu verstehen?« 

»Gritli erzählte, ein Riese habe ihm im Walde kleine Igel 
geschenkt. Die Zeichnung stellt diese Begegnung dar«, 
erläuterte Matthäi und wies auf die kleinen Scheibchen. 

»Und nun glauben Sie ...« 

»Der Verdacht ist nicht ganz unberechtigt, daß Gritli Moser mit 
dem Igelriesen seinen Mörder gezeichnet hat.« 

»Unsinn, Matthäi«, entgegnete der Arzt unwillig, »diese 
Zeichnung ist ein bloßes Phantasieprodukt, machen Sie sich da 
gar keine Hoffnung.« 

»Wahrscheinlich«, antwortete Matthäi, »dagegen ist das 
Automobil aber wieder zu gut beobachtet. Ich möchte sogar 


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sagen, daß es sich unn einen alten Amerikaner handelt, und 
auch der Riese ist lebendig gezeichnet.« 

»Riesen gibt es doch nicht«, meinte der Arzt ungeduldig. 
»Erzählen Sie mir keine Märchen.« 

»Ein großer, massiger Mann könnte einem kleinen Mädchen 
leicht wie ein Riese verkommen.« 

Der Arzt schaute Matthäi verwundert an. 

»Sie halten einen groß gewachsenen Mann für den Mörder?« 

»Das ist natürlich nur eine vage Vermutung«, wich der 
Kommissär aus. »Trifft sie zu, fährt der Mörder in einem 
schwarzen amerikanischen älteren Wagen herum.« 

Locher schob die Brille auf die Stirne. Er nahm die Zeichnung in 
die Hand, betrachtete sie aufmerksam. 

»Was soll ich denn?« fragte er unsicher. 

»Gesetzt, ich besäße vom Mörder nichts als diese Zeichnung«, 
erklärte Matthäi, »wäre sie die einzige Spur, die ich verfolgen 
könnte. Doch in diesem Fall wäre ich wie ein Laie vor einem 
Röntgenbild. Ich verstünde die Zeichnung nicht zu deuten.« 

Der Arzt schüttelte den Kopf. 

»Aus dieser Kinderzeichnung wäre nichts über den Mörder 
herauszulesen«, antwortete er und legte die Zeichnung wieder 
auf den Schreibtisch. »Es ist nur möglich, etwas über das 
Mädchen zu sagen, das die Zeichnung verfertigte. Gritli muß 
ein intelligentes, aufgewecktes und fröhliches Kind gewesen 
sein. Kinder zeichnen ja nicht nur, was sie sehen, sondern auch 
was sie dabei fühlen. Phantasie und Realität vermischen sich. 
So ist auf dieser Zeichnung einiges real, der große Mann, das 
Auto, das Mädchen; anderes wirkt wie verschlüsselt, die Igel, 
das Tier mit den großen Hörnern. Lauter Rätsel. Und die 
Lösung dazu, na ja, die hat das Gritli mit ins Grab genommen. 
Ich bin Mediziner, kein Totenbeschwörer. Packen Sie Ihre 
Zeichnung wieder ein. Es ist Unsinn, sich weiter mit ihr zu 
beschäftigen.« 

»Sie wagen es nur nicht.« 

»Ich hasse bloße Zeitverschwendung.« 


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»Was Sie Zeitverschwendung nennen, ist vielleicht nur eine alte 
Methode«, erklärte Matthäi. »Sie sind Wissenschaftler und 
wissen, was eine Arbeitshypothese ist. Betrachten Sie meine 
Annahme, auf dieser Zeichnung den Mörder gefunden zu 
haben, als eine solche. Machen Sie meine Fiktion mit und 
untersuchen wir, was dabei herauskommt.« 

Locher schaute den Kommissär einen Augenblick lang 
nachdenklich an, betrachtete dann die Zeichnung aufs neue. 

»Wie sah denn der Hausierer eigentlich aus?« fragte er. 
»Unscheinbar.« 

»Intelligent?« 

»Nicht dumm, aber faul.« 

»Ist er nicht einmal wegen eines Sittlichkeitsverbrechens 
verurteilt worden?« 

»Er hatte etwas mit einer Fünfzehnjährigen.« 

»Beziehungen zu anderen weiblichen Personen?« 

»Nun, als Hausierer. Er wilderte so ziemlich im Lande herum«, 
antwortete Matthäi. 

Locher war nun interessiert. Etwas stimmte nicht. 

»Schade, daß dieser Don Juan gestanden und sich erhängt 
hat«, brummte er, »er käme mir sonst gar nicht als Lustmörder 
vor. Doch gehen wir nun einmal auf Ihre Hypothese ein. Der 
Igelriese auf der Zeichnung ist dem Aussehen nach als 
Lustmörder durchaus denkbar. Er sieht groß und massig aus. 
Meistens sind die Menschen, die sich in dieser Weise an 
Kindern vergehen, primitiv, mehr oder weniger schwachsinnig, 
Imbecile und Debile, wie wir Ärzte uns ausdrücken, robust, zur 
Gewalttat neigend und gegenüber den Frauen 
Minderwertigkeitskomplexe oder Impotenz.« 

Er hielt inne, schien etwas entdeckt zu haben. 

»Merkwürdig«, sagte er. 

»Was ist denn?« 

»Das Datum unter der Zeichnung.« 

»Nun?« 


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»Mehr als eine Woche vor denn Mord. Gritli Moser nnüßte 
seinenn Mörder vor der Tat begegnet sein, wenn Ihre 
Hypothese stimmen sollte, Matthäi. Eigenartig wäre, daß es 
seine Begegnung in Form eines Märchens erzählt hätte.« 

»Kinderart.« 

Locher schüttelte den Kopf. »Auch Kinder tun nie etwas ohne 
Grund«, sagte er. »Wahrscheinlich hätte dann der große 
schwarze Mann dem Gritli verboten, von der geheimnisvollen 
Zusammenkunft zu erzählen. Und das arme kleine Ding hätte 
ihm gehorcht und ein Märchen statt der Wahrheit erzählt, sonst 
hätte vielleicht jemand Verdacht gefaßt und es hätte gerettet 
werden können. Ich gebe zu, die Geschichte wird in diesem Fall 
teuflisch. Wurde das Mädchen vergewaltigt?« fragte er dann 
unvermittelt. 

»Nein«, antwortete Matthäi. 

»Das gleiche ist den Mädchen geschehen, die vor Jahren 
im Sankt Gallischen und im Kanton Schwyz getötet wurden?« 
»Genau.« 

»Auch mit einem Rasiermesser?« 

»Auch.« 

Der Arzt goß sich nun ebenfalls Kognak ein. »Es handelt sich 
nicht um einen Lustmord«, meinte er, »sondern um einen 
Racheakt, der Täter wollte sich durch diese Morde an den 
Frauen rächen, gleichgültig ob es nun der Hausierer oder der 
Igelriese des armen Gritli gewesen ist.« 

»Ein Mädchen ist doch keine Frau.« 

Locher ließ sich nicht beirren. »Aber kann bei krankhaften 
Menschen eine Frau ersetzen«, erklärte er. »Weil der Mörder 
sich nicht an Frauen wagt, wagt er sich an kleine Mädchen. Er 
tötet sie anstelle der Frau. Darum wird er sich auch immer an 
die gleiche Art von Mädchen heranmachen. Prüfen Sie es nach, 
die Opfer werden sich alle gleichen. Vergessen Sie nicht, daß 
es sich um einen primitiven Menschen handelt, sei nun der 
Schwachsinn angeboren oder erst durch Krankheit erworben, 
solche Menschen haben keine Kontrolle über ihre Triebe. Die 


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Widerstandsfähigkeit, die sie ihren Impulsen entgegenzusetzen 
haben, ist abnorm gering, es braucht verdammt wenig, etwas 
geänderter Stoffwechsel, einige degenerierte Zellen, und der 
Mensch ist ein Tier.« 

»Und der Grund seiner Rache?« 

Der Arzt überlegte. »Vielleicht sexuelle Konflikte«, erklärte er 
dann, »vielleicht war der Mann von einer Frau unterdrückt oder 
ausgebeutet. Vielleicht war seine Frau reich und er arm. 
Vielleicht nahm sie eine höhere soziale Stellung ein als er.« 

»Das trifft alles nicht auf den Hausierer zu«, stellte Matthäi fest. 
Der Arzt zuckte die Schultern. 

»Dann wird eben etwas anderes auf ihn zutreffen. Das 
Absurdeste ist möglich zwischen Mann und Frau.« 

»Besteht die Gefahr neuer Morde weiter?« fragte Matthäi. 
»Falls der Mörder nicht der Hausierer ist.« 

»Wann ist der Mord im Kanton Sankt Gallen geschehen?« 

»Vor fünf Jahren.« 

»Der im Kanton Schwyz?« 

»Vor zwei.« 

»Die Abstände werden von Fall zu Fall geringer«, stellte der 
Arzt fest. »Das könnte auf die Zunahme einer Krankheit deuten. 
Der Widerstand gegenüber den Affekten muß offenbar immer 
schwächer werden, und der Kranke würde wahrscheinlich 
schon in einigen Monaten, ja Wochen einen neuen Mord 
begehen, falls er eine Gelegenheit dazu fände.« 

»Sein Verhalten in dieser Zwischenzeit?« 

»Zuerst würde der Kranke sich wie erleichtert fühlen«, meinte 
der Arzt etwas zögernd, »doch bald müßte sich neuer Haß 
ansammeln, ein neues Bedürfnis nach Rache melden. Er würde 
sich vorerst in der Nähe von Kindern aufhalten. Vor Schulen 
etwa, oder auf öffentlichen Plätzen. Dann würde er allmählich 
wieder mit seinem Wagen herumfahren und ein neues Opfer 
suchen, und wenn er das Mädchen gefunden hätte, würde er 
sich wieder anfreunden, bis es dann eben aufs neue 
geschähe.« 


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Locher schwieg. 

Matthäi nahm die Zeichnung, faltete sie zusammen und schob 
sie in seine Brusttasche, starrte nach dem Fenster, in welchem 
nun die Nacht stand. 

»Wünschen Sie mir Glück, den Igelriesen zu finden, Locher«, 
sagte er. 

Der Arzt schaute ihn betroffen an, begriff auf einmal. »Der 
Igelriese ist wohl für Sie mehr als eine bloße Arbeitshypothese, 
nicht wahr, Matthäi?« sagte er. 

Matthäi gab es zu. »Er ist für mich wirklich. Ich zweifle keinen 
Augenblick, daß er der Mörder ist.« 

Alles, was er ihm gesagt habe, sei nur eine Spekulation, ein 
bloßes Gedankenspiel ohne wissenschaftlichen Wert, erklärte 
der Arzt, darüber verärgert, daß er getäuscht worden war und 
die Absicht Matthäis nicht durchschaut hatte. Er habe nur auf 
eine bloße Möglichkeit unter tausend anderen Möglichkeiten 
hingewiesen. Mit der gleichen Methode könnte man beweisen, 
daß jeder Beliebige der Mörder sein könnte, warum nicht, jeder 
Unsinn sei schließlich denkbar und irgendwie logisch zu 
begründen, das wisse Matthäi ganz genau, er, Locher, habe 
dessen Fiktion nur aus Gutmütigkeit mitgemacht, doch nun 
solle Matthäi auch Manns genug sein, die Realität ohne 
Hypothesen zu sehen, und den Mut haben, sich in die 
Faktoren, die eindeutig die Schuld des Hausierers bewiesen, zu 
schicken. Die Kinderzeichnung sei ein bloßes Phantasieprodukt 
oder entspreche einer Begegnung des Mädchens mit einem 
Menschen, der gar nicht der Mörder sei, gar nicht der Mörder 
sein könne. 

»Überlassen Sie es ruhig mir«, antwortete Matthäi, indem er 
seinen Kognak austrank, »welcher Grad von Wahrscheinlichkeit 
Ihren Ausführungen beizumessen ist.« 

Der Arzt antwortete nicht gleich. Er saß nun wieder hinter 
seinem alten Schreibtisch, umgeben von seinen Büchern und 
Protokollen, ein Direktor einer Klinik, die schon längst veraltet 
war, der es an Geld fehlte, am Nötigsten und in deren Dienst er 
sich hoffnungslos aufrieb. »Matthäi«, schloß er endlich die 


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Unterredung und seine Stimme klang müde und bitter, »Sie 
versuchen etwas Unmögliches. Ich will jetzt nicht pathetisch 
werden. Man hat seinen Willen, seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, 
man gibt nicht gern auf. Das begreife ich auch, ich bin selber 
so. Doch wenn Sie nun einen Mörder suchen wollen, den es 
aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht gibt und den Sie, wenn 
es ihn auch gäbe, nie finden werden, weil zu viele seiner Art 
sind, die nur aus Zufall nicht morden, wird es bedenklich. Daß 
Sie den Wahnsinn als Methode wählen, mag mutig sein, das 
will ich gerne anerkennen, extreme Haltungen imponieren ja 
heute, aber wenn diese Methode nicht zum Ziele führt, fürchte 
ich, daß Ihnen dann einmal nur noch der Wahnsinn bleibt.« 

»Leben Sie wohl, Doktor Locher«, sagte Matthäi. 

Das Gespräch wurde mir von Locher rapportiert. Wie üblich war 
seine winzige, wie gestochene deutsche Schrift kaum zu lesen. 
Ich ließ Henzi kommen. Er mußte das Dokument ebenfalls 
studieren. Er meinte, der Arzt spreche ja selbst von haltlosen 
Hypothesen. Ich war nicht so sicher, der Arzt schien mir Angst 
vor der eigenen Courage zu haben. Ich zweifelte nun doch. Wir 
besaßen schließlich vom Hausierer kein ausführliches 
Geständnis, das wir hätten nachprüfen können, sondern nur ein 
allgemeines. Dazu war die Mordwaffe noch nicht gefunden 
worden, keines der im Korbe befindlichen Rasiermesser wies 
Blutspuren auf. Das gab mir aufs neue zu denken. Damit war 
zwar von Gunten nachträglich nicht entlastet, die 
Verdachtsmomente waren immer noch schwer, doch ich war 
beunruhigt. Auch leuchtete mir Matthäis Vorgehen mehr ein, als 
ich zugab. Ich ging zum Ärger des Staatsanwalts so weit, daß 
ich den Wald bei Mägendorf nochmals durchsuchen ließ, doch 
standen wir darauf wieder ohne Resultat da. Die Mordwaffe 
blieb unauffindbar. Offenbar lag sie doch im Tobel, wie Henzi 
glaubte. 

»Nun«, sagte er und nahm eine seiner gräßlichen parfümierten 
Zigaretten aus der Schachtel, »mehr können wir wirklich nicht 
für den Fall tun. Entweder ist Matthäi verrückt oder wir. Wir 
müssen uns jetzt entscheiden.« 


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Ich deutete auf die Photographien, die ich hatte konnnnen 
lassen. Die drei ermordeten Mädchen glichen sich. 

»Das weist doch wieder auf den Igelriesen hin.« 

»Wieso?« antwortete Henzi kaltblütig. »Die Mädchen 
entsprechen eben dem Typ des Hausierers.« Dann lachte er. 
»Nimmt mich nur wunder, was Matthäi unternimmt. In seiner 
Haut möchte ich nicht stecken.« 

»Unterschätzen Sie ihn nicht«, brummte ich. »Der ist zu allem 
fähig.« 

»Wird er auch einen Mörder finden, den es gar nicht gibt, 
Kommandant?« 

»Vielleicht«, antwortete ich und legte die drei Photographien 
wieder zu den Akten. »Ich weiß nur, daß Matthäi nicht aufgibt.« 

Ich sollte recht behalten. Die erste Nachricht kam vom Chef der 
Stadtpolizei. Nach einer Sitzung. Wir hatten wieder einmal 
einen Kompetenzfall zu erledigen gehabt, worauf dieser 
Unglücksmensch, als er sich verabschiedete, auf Matthäi zu 
sprechen kam. Wohl um mich zu ärgern. Ich vernahm, er sei 
des öfteren im Zoologischen Garten gesehen worden, ferner 
habe er sich bei einer Garage am Escher-Wyß-Platz einen 
alten Nash erstanden. Kurz darauf erhielt ich eine weitere 
Meldung. Sie verwirrte mich vollends. Es war in der 
»Kronenhalle«, an einem Sonnabend, ich erinnere mich noch 
genau. Um mich herum war alles versammelt, was in Zürich 
Klang, Namen und Appetit hat, emsige Kellnerinnen 
dazwischen, die Voiture dampfte, und von der Straße her drang 
das Rollen des Verkehrs. Ich saß eben bei einer 
Leberknödelsuppe unter dem »Miro« und dachte an nichts 
Böses, als mich der Vertreter einer der großen Treibstoffirmen 
ansprach. Er setzte sich ohne weiteres an meinen Tisch. Er war 
leicht betrunken und übermütig, bestellte einen Marc und 
erzählte mir lachend, mein ehemaliger Oberleutnant habe den 
Beruf gewechselt und in Graubünden, in der Nähe von Chur, 
eine Benzintankstelle übernommen, welche die Firma schon 
habe aufgeben wollen, so unrentabel sei sie gewesen. 


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Ich wollte dieser Nachricht zuerst keinen Glauben schenken. 
Sie kam mir ungereimt vor, töricht, sinnlos. 

Der Vertreter blieb dabei. Er rühmte, Matthäi stelle auch im 
neuen Berufseinen Mann. Die Benzintankstelle floriere. Matthäi 
habe viele Kunden. Fast ausschließlich solche, mit denen er 
schon einmal beschäftigt gewesen sei, wenn auch in anderer 
Weise. Es müsse sich herumgesprochen haben, daß »Matthäi 
am Letzten« zum Tankwart avanciert sei, so kämen denn die 
»Ehemaligen« mit ihren Motorfahrzeugen von allen Seiten 
angerückt und angeflitzt. Vom vorsintflutlichen Bewegungsmittel 
bis zum teuersten Mercedes sei alles vertreten. Die Tankstelle 
Matthäis sei eine Art Pilgerort für die Unterwelt der ganzen 
Ostschweiz geworden. Der Benzinverkauf steige gewaltig. 
Soeben habe die Firma ihm eine zweite Tanksäule für Super 
eingerichtet. Sie habe ihm auch angeboten, ein modernes 
Gebäude anstelle des alten Hauses zu errichten, das er nun 
bewohne. Er hätte dankend abgelehnt und sich auch geweigert, 
einen Gehilfen einzustellen. Oft ständen die Wagen und 
Motorräder in Schlangen da, aber niemand werde ungeduldig. 
Die Ehre, sich von einem ehemaligen Oberleutnant der 
Kantonspolizei bedienen zu lassen, sei offensichtlich zu groß. 

Ich wußte keine Antwort. Der Vertreter verabschiedete sich, 
und als die Voiture herandampfte, hatte ich keinen rechten 
Appetit mehr, aß nur wenig, bestellte Bier. Später kam wie 
gewohnt Henzi mit seiner Hottinger, finster, weil eine 
Abstimmung nicht nach seinem Sinn ausgefallen war, hörte 
sich die Neuigkeit an. Er meinte, nun habe Matthäi eben doch 
den Verstand verloren, er habe es immer prophezeit, wurde auf 
einmal bester Laune, aß zwei Steaks, während die Hottinger 
ununterbrochen vom Schauspielhaus erzählte. Sie kenne dort 
einige Leute. 

Darauf, einige Tage später, klingelte das Telephon. Während 
einer Sitzung. Natürlich wieder mit der Stadtpolizei. Die Leiterin 
eines Waisenhauses. Das alte Fräulein erzählte mir aufgeregt, 
Matthäi sei bei ihr erschienen, feierlich gekleidet, ganz in 
Schwarz, um offenbar einen seriösen Eindruck zu machen, und 
habe sie gefragt, ob er nicht aus dem Kreise ihrer 


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Schutzbefohlenen, wie sie sich ausdrückte, ein bestimmtes 
Mädchen haben dürfe. Nur dieses Kind komme in Betracht; ein 
Kind zu haben, sei immer sein Wunsch gewesen, und jetzt, da 
er allein eine Garage im Graubündischen betreibe, sei er auch 
in der Lage, es zu erziehen. Selbstverständlich habe sie dieses 
Ansinnen abgelehnt, höflich, auf die Statuten des Heims 
hinweisend; aber mein ehemaliger Oberleutnant habe ihr einen 
so seltsamen Eindruck gemacht, daß sie es für ihre Pflicht 
gehalten habe, mich zu informieren. Dann hängte sie auf. Das 
war nun freilich sonderbar. Ich zog verblüfft an meiner 
Bahianos. Doch ganz unmöglich wurde Matthäis Benehmen für 
uns in der Kasernenstraße erst durch eine andere Affäre. Wir 
hatten ein höchst bedenkliches Subjekt herzitiert. Es handelte 
sich um einen inoffiziellen Zuhälter und offiziellen 
Damencoiffeur, der sich in einem von vielen Dichtern 
ausgezeichneten Dorfe über dem See äußerst wohnlich in einer 
stattlichen Villa eingerichtet hatte. Jedenfalls war der Taxi- und 
Privatwagenverkehr dorthin mehr als rege. Ich hatte kaum mit 
dem Verhör begonnen, da trumpfte er auf. Er strahlte vor 
Freude, uns seine Neuigkeit unter die Nase zu reiben. Matthäi 
hauste in seiner Tankstelle mit der Heller zusammen. Ich 
läutete sofort Chur an, dann den Polizeiposten, der dort 
zuständig war; die Nachricht stimmte. Ich verstummte, die 
Tatsache hatte mir die Sprache verschlagen. Der 
Damencoiffeur saß triumphierend vor meinem Schreibtisch, 
kaute an seinem Chewing-Gum. Ich kapitulierte, ordnete an, 
den alten Sünder in Gottes Namen wieder laufen zu lassen. Er 
hatte uns ausgespielt. 

Der Vorfall war alarmierend. Ich war perplex, Henzi empört, der 
Staatsanwalt angewidert, und der Regierungsrat, dem es auch 
zu Ohren kam, redete von Schande. Die Heller war einmal 
unser Gast in der Kasernenstraße gewesen. Eine Kollegin von 
ihr - na ja, eine ebenfalls stadtbekannte Dame -war ermordet 
worden; wir hatten die Heller in Verdacht gehabt, mehr von der 
Affäre zu wissen, als sie uns erzählte, und später war sie 
kurzerhand aus dem Kanton Zürich gewiesen worden, obgleich, 
sah man von ihrem Beruf ab, eigentlich nichts gegen sie vorlag. 


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Aber es sitzen eben immer Leute in der Verwaltung, die ihre 
Vorurteile haben. Ich beschloß, einzugreifen, hinzufahren. Ich 
spürte, daß Matthäis Handeln mit Gritli Moser zusammenhing, 
begriff aber nicht, wie. Mein Nichtwissen machte mich wütend 
und unsicher, dazu kam auch die kriminalistische Neugier. Als 
Mann der Ordnung wollte ich in Erfahrung bringen, was hier 
gespielt wurde. 

Ich machte mich auf den Weg. Mit meinem Wagen, allein. Es 
war Sonntag, wieder einmal, und es kommt mir - indem ich nun 
rückblicke - vor, als habe sich überhaupt viel Wichtiges in 
dieser Geschichte an Sonntagen abgespielt. Glockengeläute 
überall, das ganze Land schien zu bimmeln und zu dröhnen; 
dazu geriet ich noch irgendwo im Kanton Schwyz in eine 
Prozession. Auf der Straße ein Wagen nach dem andern, im 
Radio eine Predigt nach der andern. Später schoß, pfiff, 
knatterte und bollerte es bei jedem Dorf in den Schießständen. 
Alles war in monströser, sinnloser Unruhe, die ganze 
Ostschweiz schien in Bewegung geraten zu sein; irgendwo gab 
es ein Autorennen, dazu eine Menge Wagen aus der 
Westschweiz; man fuhr familienweise her, ganze Sippschaften 
rollten heran, und als ich die Tankstelle endlich erreichte, die 
Sie ja auch kennen, war ich von all dem lärmenden 
Gottesfrieden erschöpft. Ich schaute mich um. Die Tankstelle 
machte damals nicht den vernachlässigten Eindruck wie heute. 
Sie war vielmehr freundlich, alles sauber und in den Fenstern 
Geranien. Auch war noch keine Schenke vorhanden. Alles 
hatte etwas Solides und Kleinbürgerliches. Dazu kam, daß 
überall, der Straße entlang, Gegenstände auf ein Kind 
hinwiesen, eine Schaukel, ein großes Puppenhaus auf einer 
Bank, ein Puppenwagen, ein Schaukelpferd. Matthäi selbst 
bediente soeben einen Kunden, der sich hastig mit seinem 
Volkswagen davonmachte, als ich aus meinem Opel stieg. 
Neben Matthäi stand ein Mädchen, sieben- oder achtjährig, 
eine Puppe im Arm. Es war blondzöpfig und hatte ein rotes 
Röcklein an. Das Kind kam mir bekannt vor, doch wußte ich 
nicht, weshalb, denn der Heller glich es eigentlich gar nicht. 


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»Das war doch der rote Meier«, sagte ich und wies auf den 
Volkswagen, der sich entfernte. »Erst vor einem Jahr 
entlassen.« 

»Benzin?« fragt Matthäi gleichgültig. Er trug einen blauen 
Monteuranzug. »Super.« 

Matthäi füllte den Tank, putzte die Scheibe. »Vierzehn dreißig.« 

Ich gab ihm fünfzehn. »Es ist schon recht«, sagte ich, als er mir 
herausgeben wollte, bekam aber gleich darauf einen roten 
Kopf. »Verzeihen Sie, Matthäi, das ist mir nur so 
herausgerutscht.« 

»Aber bitte«, antwortete er und steckte das Geld ein, »das bin 
ich gewohnt.« 

Ich war verlegen, betrachtete aufs neue das Mädchen. »Ein 
nettes kleines Ding«, sagte ich. Matthäi öffnete die Türe meines 
Wagens. »Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.« 

»Na ja«, brummte ich, »ich wollte eigentlich einmal mit Ihnen 
reden. Zum Teufel, Matthäi, was soll dies alles?« 

»Ich habe versprochen. Sie nicht mehr mit dem Fall Gritli Moser 
zu belästigen, Kommandant. Halten Sie nun Gegenrecht und 
belästigen Sie mich auch nicht«, antwortete er und kehrte mir 
den Rücken. 

»Matthäi«, entgegnete ich, »lassen wir doch die Kindereien.« 

Er schwieg. Nun begann es zu pfeifen und zu knallen. Irgendein 
Schießstand mußte auch hier in der Nähe sein. Es ging gegen 
elf. Ich sah zu, wie er einen Alfa Romeo bediente. »Der hat 
auch einmal seine dreieinhalb Jahre gesessen«, bemerkte ich, 
als sich der Wagen entfernte. »Wollen wir nicht hineingehen? 
Die Schießerei macht mich nervös. Ich kann sie nicht leiden.« 

Er führte mich ins Haus. Im Korridor begegneten wir der Heller, 
die mit Kartoffeln aus dem Keller kam. Sie war immer noch eine 
schöne Frau, und ich war als Kriminalbeamter etwas verlegen, 
schlechtes Gewissen. Sie schaute uns fragend an, einen 
Augenblick etwas beunruhigt, wie es schien, begrüßte mich 
dann aber freundlich, machte überhaupt einen guten Eindruck. 


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»Gehört das Kind ihr?« fragte ich, nachdenn die Frau in der 
Küche verschwunden war. 

Matthäi nickte. 

»Wo haben Sie denn die Helleraufgetrieben?« fragte ich. 

»In der Nähe. Sie arbeitete in der Ziegelfabrik.« 

»Und weshalb ist sie hier?« 

»Na«, antwortete Matthäi, »ich brauchte schließlich jemand für 
den Haushalt.« 

Ich schüttelte den Kopf. 

»Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen reden«, sagte ich. 
»Annemarie, geh in die Küche«, befahl Matthäi. 

Das Mädchen ging hinaus. 

Das Zimmer war ärmlich, aber sauber. Wir setzten uns an einen 
Tisch beim Fenster. Draußen knallte es mächtig. Eine Salve um 
die andere. 

»Matthäi«, fragte ich abermals, »was soll dies alles?« 

»Ganz einfach, Kommandant«, antwortete mein ehemaliger 
Kommissär, »ich fische.« 

»Was wollen Sie damit sagen?« 

»Kriminalistische Arbeit, Kommandant.« 

Ich zündete mir ärgerlich eine Bahianos an. »Ich bin kein 
Anfänger, aber ich begreife wirklich nichts.« 

»Geben Sie mir auch so eine.« 

»Bitte«, sagte ich und schob ihm das Etui hin. Matthäi stellte 
Kirsch auf. Wir saßen in der Sonne; das Fenster war halb 
geöffnet, draußen vor den Geranien mildes Juniwetter und die 
Knallerei. Wenn ein Wagen hielt, was nun seltener vorkam, da 
es gegen Mittag ging, bediente die Heller. 

»Locher hat Ihnen ja über unser Gespräch berichtet«, sagte 
Matthäi, nachdem er die Bahianos sorgfältig in Brand gesteckt 
hatte. 

»Das hat uns nicht weitergebracht.« 

»Aber mich.« 


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»Inwiefern?« fragte ich. 

»Die Kinderzeichnung entspricht der Wahrheit.« 

»So. Und was sollen nun die Igel bedeuten?« 

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Matthäi, »aber was das 
Tier mit den seltsamen Hörnern darstellt, habe ich 
herausbekommen.« 

»Nun?« 

»Es ist ein Steinbock«, sagte Matthäi gemächlich und zog an 
seiner Zigarre, paffte den Rauch in die Stube. 

»Deshalb waren Sie im Zoo?« 

»Tagelang«, antwortete er. »Ich habe auch Kinder Steinböcke 
zeichnen lassen. Was sie zeichneten, glich dem Tier Gritli 
Mosers.« Ich begriff. 

»Der Steinbock ist das Wappentier Graubündens«, sagte ich. 
»Das Wappen dieser Gegend.« 

Matthäi nickte. »Das Wappen am Nummernschild des Wagens 
ist dem Gritli aufgefallen.« Die Lösung war einfach. 

»Daran hätten wir gleich denken können«, brummte ich. 

Matthäi beobachtete seine Zigarre, das Wachsen der Asche, 
den leichten Rauch. 

»Der Fehler«, sagte er ruhig, »den wir begingen. Sie, Henzi und 
ich, war die Annahme, der Mörder handle von Zürich aus. In 
Wahrheit kommt er aus Graubünden. Ich bin den 
verschiedenen Tatorten nachgegangen, sie liegen alle auf der 
Strecke Graubünden-Zürich.« Ich überlegte mir die Sache. 

»Matthäi, daran mag etwas liegen«, mußte ich dann zugeben. 
»Das ist noch nicht alles.« 

»Nun?« 

»Ich bin Fischerjungen begegnet.« 

»Fischerjungen?« 

»Naja, Buben, die fischten, genauer.« 

Ich starrte ihn verwundert an. 


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»Sehen Sie«, erzählte er, »nach meiner Entdeckung fuhr ich 
zuerst in den Kanton Graubünden. Logischerweise. Doch bin 
ich mir bald über den Unsinn meines Unterfangens klar 
geworden. Der Kanton Graubünden ist so groß, daß es 
schwerfällt, hier einen Menschen zu finden, von dem man 
nichts weiß, als daß er großgewachsen sein muß und einen 
alten schwarzen Amerikaner fährt. Über siebentausend 
Quadratkilometer, über hundertdreißigtausend Menschen 
verzettelt in Unmengen von Tälern - ein Ding der 
Unmöglichkeit. An einem kalten Tage nun habe ich ratlos am 
Inn gesessen, im Engadin, und schaute Knaben zu, die sich am 
Flußufer beschäftigten. Ich wollte mich schon abwenden, als ich 
bemerkte, daß die Buben auf mich aufmerksam geworden 
waren. Sie sahen erschrocken aus und . standen verlegen 
herum. Einer hatte eine selbstverfertigte Angel bei sich. Fische 
nur weiter, sagte ich. Die Knaben betrachteten mich 
mißtrauisch. Sind Sie von der Polizei? fragte ein rothaariger, 
etwa zwölfjähriger Junge mit Sommersprossen. Sehe ich so 
aus? entgegnete ich. Na, ich weiß nicht, antwortete der Junge. 
Ich bin nicht von der Polizei, erklärte ich. Dann schaute ich zu, 
wie sie die Köder ins Wasser warfen. Es waren fünf Buben, alle 
in ihre Beschäftigung versunken. Es beißt keiner an, sagte nach 
einer Weile der sommersprossige Junge resigniert und kletterte 
das Ufer hoch, kam zu mir. Haben Sie vielleicht eine Zigarette? 
fragte er. Du bist ja gut, sagte ich, du in deinem Alter. Sie sehen 
so aus, als würden Sie mir eine geben, erklärte der Junge. 
Dann muß ich wohl, antwortete ich und hielt ihm mein Paket 
Parisiennes hin. Danke, sagte der Sommersprossige, Feuer 
habe ich selbst. Dann blies er den Rauch durch die Nase. Das 
tut gut, nach dem totalen Mißerfolg der Fischerei, erklärte er 
großtuerisch. Na, meinte ich, deine Kameraden scheinen aber 
eine größere Ausdauer als du zu haben. Sie fischen weiter, und 
sicher werden sie bald etwas fangen. Das werden sie nicht, 
behauptete der Junge, höchstens eine Äsche. Du möchtest 
wohl einen Hecht fangen, neckte ich ihn. Hechte interessieren 
mich nicht, antwortete der Knabe. Forellen. Aber das ist eine 
Geldfrage. Wieso? wunderte ich mich. Als Kind habe ich sie mit 
der Hand gefangen. Er schüttelte geringschätzig den Kopf. Das 


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waren junge. Aber fangen Sie einmal einen ausgewachsenen 
Räuber mit der Hand. Forellen sind Raubfische wie die Hechte, 
doch schwieriger zu fangen. Dazu sollte man eben ein Patent 
haben, und das kostet Geld, fügte der Junge bei. Na, ihr macht 
es schließlich ohne Geld, lachte ich. Der Nachteil ist nur, 
erklärte der Junge, daß wir nicht an die richtigen Orte kommen. 
Da sitzen eben die mit den Patenten. Was verstehst du unter 
einem richtigen Ort? fragte ich. Sie verstehen offenbar nichts 
vom Fischen, stellte der Junge fest. Das sehe ich ein, 
antwortete ich. Wir hatten uns beide auf die Uferböschung 
gesetzt. Sie stellen sich wohl vor, daß man die Angel einfach 
irgendwo ins Wasser werfen müßte? meinte er. Ich wunderte 
mich ein wenig und fragte, was denn da Falsches dabei sei? 
Typisch für einen Anfänger, entgegnete der Sommersprossige 
und blies wieder den Rauch durch die Nase: Zum Fischen muß 
man vor allem zweierlei kennen: den Ort und den Köder. Ich 
hörte ihm aufmerksam zu. Nehmen wir an, fuhr der Knabe fort. 
Sie wollen eine Forelle fangen, einen ausgewachsenen Räuber. 
Sie müssen nun zuerst überlegen, wo sich der Fisch am 
liebsten aufhält. An einem Ort natürlich, wo er gegen die 
Strömung geschützt ist, und zweitens, wo eine große Strömung 
ist, weil hier um so mehr Tiere vorbeigeschwommen kommen, 
also etwa flußabwärts hinter einem großen Stein oder noch 
besser: flußabwärts hinter einem Brückenpfeiler. Solche Orte 
sind natürlich leider von Patentfischern besetzt. Die Strömung 
muß unterbrochen werden, wiederholte ich. Sie haben es 
kapiert, nickte er stolz. Und der Köder? fragte ich. Da kommt es 
eben darauf an, ob Sie einen Raubfisch fangen wollen oder 
etwa eine Äsche oder einen Aalbock, die Vegetarier sind, war 
seine Antwort. Einen Aalbock zum Beispiel können Sie mit 
einer Kirsche fangen. Aber einen Raubfisch, eine Forelle also 
oder einen 

Barsch müssen Sie mit etwas Lebendigem fangen. Mit einer 
Mücke, mit einem Wurm oder mit einem kleinen Fisch. Mit 
etwas Lebendigem, sagte ich nachdenklich und erhob mich. 
Hier, sagte ich und gab dem Jungen das ganze Paket 
Parisiennes. Das hast du verdient. Jetzt weiß ich, wie ich 


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meinen Fisch fangen muß. Zuerst muß ich den Ort suchen und 
dann den Köder.« 

Matthäi schwieg. Ich sagte lange nichts, trank meinen Schnaps, 
starrte ins schöne Vorsommerwetter mit der Knallerei vor dem 
Fenster und zündete meine erloschene Zigarre wieder an. 

»Matthäi«, begann ich endlich, »nun verstehe ich auch, was Sie 
vorhin mit dem Fischen meinten. Hier bei dieser Tankstelle ist 
der günstige Ort, und diese Straße ist der Fluß, nicht wahr?« 

Matthäi verzog keine Miene. 

»Wer von Graubünden nach Zürich will, muß sie benützen, will 
er nicht den Umweg über den Oberalppaß machen«, antwortete 
er ruhig. 

»Und das Mädchen ist der Köder«, sagte ich und erschrak. 

»Und jetzt weiß ich auch, wem es gleicht«, stellte ich fest. 
»Dem ermordeten Gritli Moser.« 

Wir schwiegen beide aufs neue. Draußen war es wärmer 
geworden, die Berge flimmerten im Dunst, und die Schießerei 
dauerte an, offenbar ein Schützenfest. »Begehen Sie da nicht 
eine Teufelei?« fragte ich endlich zögernd. 

»Möglich«, gab er zur Antwort. 

Ich fragte besorgt: »Sie wollen nun hier warten, bis der Mörder 
vorbeikommt, die Annemarie sieht und in die Falle gerät, die 
Sie ihm gestellt haben?« 

»Der Mörder muß hier vorbeikommen«, antwortete er. 

Ich überlegte. »Gut«, sagte ich dann, »nehmen wir an. Sie 
hätten recht. Es gebe diesen Mörder. Es ist ja nicht 
ausgeschlossen, daß es so ist. In unserem Beruf ist alles 
möglich. Aber glauben Sie nicht, daß Ihre Methode zu gewagt 
ist?« 

»Es gibt keine andere Methode«, erklärte er und warf den 
Zigarrenstummel zum Fenster hinaus. »Ich weiß vom Mörder 
nichts. Ich kann ihn nicht suchen. Also mußte ich sein nächstes 
Opfer suchen, ein Mädchen, und das Kind als Köder 
aussetzen.« 


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»Schön«, sagte ich, »aber die Methode haben Sie von der Art 
und Weise des Fischens übernommen. Das eine deckt sich 
jedoch nicht ganz mit dem andern. Ein Mädchen können Sie 
doch nicht immer wie einen Köder in der Nähe der Straße 
halten, es muß doch auch zur Schule, es will doch auch fort von 
Ihrer verfluchten Landstraße.« 

»Bald beginnen die großen Ferien«, antwortete Matthäi 
hartnäckig. 

Ich schüttelte den Kopf. 

»Ich fürchte, daß Sie sich in eine Idee verrennen«, entgegnete 
ich. »Sie können doch nicht hier bleiben, bis etwas geschehen 
soll, was vielleicht gar nicht geschehen wird. Zugegeben, der 
Mörder kommt hier aller Wahrscheinlichkeit nach durch, aber 
damit ist doch noch nicht gesagt, daß er Ihren Köder ergreifen 
wird, um nun schon bei diesem Vergleich zu bleiben. Und dann 
warten Sie und warten ...« 

»Auch beim Fischen muß man warten«, antwortete Matthäi 
störrisch. 

Ich spähte aus dem Fenster, sah zu, wie die Frau den 
Oberholzer bediente. Sechs Jahre Regensdorf im ganzen. 

»Weiß die Heller, weshalb Sie hier sind, Matthäi?« 

»Nein«, erwiderte er. »Ich habe der Frau erklärt, es gehe mir 
nur darum, eine Haushälterin zu finden.« 

Es war mir gar nicht wohl zumute. Der Mann imponierte mir 
zwar, seine Methode war ungewöhnlich, hatte etwas 
Grandioses. Ich bewunderte ihn auf einmal, wünschte ihm 
Erfolg, wenn auch vielleicht nur, um den gräßlichen Henzi zu 
demütigen; dennoch hielt ich sein Unternehmen für 
aussichtslos, das Risiko zu groß, die Gewinnchancen zu klein. 

»Matthäi«, versuchte ich ihn zur Vernunft zu bringen, »noch ist 
es Zeit für Sie, den Posten in Jordanien doch anzunehmen, 
sonst werden die Berner Schafroth schicken.« 

»Er soll nur gehen.« 

Ich gab es immer noch nicht auf. »Hätten Sie keine Lust, bei 
uns wieder einzutreten?« 


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»Nein.« 

»Wir würden Sie vorerst im innern Dienst beschäftigen, zu den 
alten Bedingungen.« 

»Ich habe keine Lust.« 

»Sie können auch zur Stadtpolizei hinüberwechseln. Das 
müssen Sie sich doch schon rein finanziell überlegen.« 

»Ich verdiene als Tankstellenbesitzer nun fast mehr als im 
Staatsdienst«, antwortete Matthäi. »Aber da kommt ein Kunde, 
und Frau Heller wird jetzt mit ihrem Schweinsbraten beschäftigt 
sein.« 

Er erhob sich und ging hinaus. Dann mußte er gleich darauf 
einen weiteren Kunden bedienen. Den schönen Leo. Als er mit 
der Arbeit fertig war, saß ich schon in meinem Wagen. 

»Matthäi«, sagte ich, indem ich mich verabschiedete, »Ihnen ist 
wirklich nicht zu helfen.« 

»Es ist nun eben so«, antwortete er und gab mir das Zeichen, 
die Straße sei frei. Neben ihm stand das Mädchen im roten 
Röcklein, und in der Türe stand die Heller mit umgebundener 
Schürze, wieder voll Mißtrauen, wie ich an ihrem Blick sah. Ich 
fuhr zurück. 

So wartete er denn. Unerbittlich, hartnäckig, leidenschaftlich. Er 
bediente seine Kunden, tat seine Arbeit, Benzin einfüllen, öl, 
Wasser nachfüllen, Scheiben wischen, immer die gleichen 
mechanischen Hantierungen. Das Kind war neben ihm oder 
beim Puppenhaus, wenn es von der Schule zurückkam, 
trippelnd, hüpfend, staunend, vor sich hin redend, oder saß 
singend auf der Schaukel mit fliegenden Zöpfen und rotem 
Röcklein. Er wartete und wartete. Die Autos fuhren an ihm 
vorbei, Wagen in allen Farben und allen Steuerklassen, alte 
Wagen, neue Wagen. Er wartete. Er schrieb die Fahrzeuge aus 
dem Kanton Graubünden auf, suchte im Verzeichnis nach ihren 
Besitzern, erkundigte sich telephonisch in den 
Gemeindeschreibereien nach ihnen. Die Heller arbeitete in 
einer kleinen Fabrik beim Dorfe gegen die Berge hin und kehrte 
nur abends über die kleine Anhöhe hinter dem Haus zurück, mit 
der Einkaufstasche und dem Netz voll Brot, und in den Nächten 


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manchmal strich er ums Haus herum, leise Pfiffe, doch öffnete 
sie nicht. Der Sommer kam, heiß, endlos, flimmernd, lastend, 
mit gewaltigen Entladungen oft, und so brachen die großen 
Ferien an. Matthäis Chance war gekommen. Annemarie blieb 
nun stets bei ihm und damit bei der Straße, jedem sichtbar, der 
vorbeifuhr. Er wartete und wartete. Er spielte mit dem Mädchen, 
erzählte ihm Märchen, den ganzen Grimm, den ganzen 
Andersen, Tausendundeine Nacht, erfand selbst welche, tat 
verzweifelt alles, um das Mädchen an sich zu fesseln, an die 
Straße, an welcher er es haben mußte. Es blieb, zufrieden mit 
den Geschichten und Märchen. Die Automobilisten 
betrachteten das Paar verwundert oder gerührt als Idyll von 
Vater und Kind, schenkten dem Mädchen Schokolade, 
plauderten mit ihm, von Matthäi belauert. War dieser große 
schwere Mann der Lustmörder? Sein Wagen kam aus 
Graubünden. Oder jener lange, hagere, der nun mit dem 
Mädchen sprach? Inhaber einer Confiserie in Disentis, wie er 
schon längst heraus- gebracht hatte. Öl in Ordnung? Bitte sehr. 
Schütte noch einen halben Liter nach. Dreiundzwanzig zehn. 
Gute Reise dem Herrn. Er wartete und wartete. Annemarie 
liebte ihn, war zufrieden mit ihm; er hatte nur eines im Sinn, das 
Er- scheinen des Mörders. Es gab für ihn nichts als diesen 
Glauben an sein Erscheinen, nichts als diese Hoffnung, nur 
diese Sehnsucht, nur diese Erfüllung. Er stellte sich vor, wie der 
Bursche käme, gewaltig, linkisch, kindlich, voll Zutraulichkeit 
und Mordgier, wie er immer wieder erscheinen würde bei der 
Tankstelle, freundlich grinsend und feierlich gekleidet, ein 
pensionierter Eisenbahner etwa oder ein ausgedienter 
Zollbeamter; wie das Kind sich weglocken ließe, allmählich, wie 
er den beiden in den Wald hinter der Tankstelle folgen würde, 
geduckt, leise, wie er im entscheidenden Augenblick 
vorschnellen würde und wie es dann zum wilden blutigen 
Kampfe von Mann zu Mann käme, zur Entscheidung, zur 
Erlösung, und wie der Mörder dann vor ihm liegen würde, 
zerschlagen, winselnd, gestehend. Doch dann mußte er sich 
wieder sagen, daß dies alles unmöglich sei, weil er das Kind zu 
offensichtlich bewachte; daß er dem Kind mehr Freiheit lassen 
müsse, wenn er zu einem Resultat kommen wollte. Dann 


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entließ er Annennarie von der Straße, zog ihr aber heimlich 
nach, ließ die Tankstelle allein, vor der die Wagen ärgerlich 
tuteten. Das Mädchen hüpfte dann zum Dorf, einen Weg von 
einer halben Stunde, spielte mit Kindern bei den 
Bauernhäusern oder am Waldrand, doch kehrte es stets nach 
kurzem zurück. Es war an die Einsamkeit gewöhnt und scheu. 
Auch wurde es von den anderen Kindern gemieden. Dann 
änderte er die Taktik wieder, erfand neue Spiele, neue 
Märchen, lockte Annemarie wieder an sich. Er wartete und 
wartete. Unbeirrbar, unablenkbar. Ohne eine Erklärung 
abzugeben. Denn der Heller war die Aufmerksamkeit, die er 
dem Kinde schenkte, schon lange aufgefallen. Sie hatte nie 
geglaubt, daß Matthäi sie aus bloßer Gutmütigkeit zur 
Haushälterin genommen hatte. Sie spürte, daß er etwas 
beabsichtigte, doch war sie geborgen bei ihm, zum erstenmal 
vielleicht in ihrem Leben, und so dachte sie nicht weiter nach; 
vielleicht machte sie sich auch Hoffnungen, wer weiß, was in 
einem armen Weibe vorgeht; das Interesse jedenfalls, das 
Matthäi ihrem Kinde gegenüber zeigte, schrieb sie mit der Zeit 
einer echten Zuneigung zu, wenn auch manchmal ihr altes 
Mißtrauen und ihr alter Sinn für Realitäten wieder zum 
Vorschein kamen. 

»Herr Matthäi«, sagte sie einmal, »es geht mich zwar nichts an, 
aber ist der Kommandant der Kantonspolizei meinetwegen 
hierher gekommen?« 

»Aber nein«, antwortete Matthäi, »warum sollte er denn?« 

»Die Leute im Dorf reden über uns.« 

»Das ist doch unwichtig.« 

»Herr Matthäi«, begann sie von neuem, »hat Ihr Aufenthalt hier 
etwas mit Annemarie zu tun?« 

»Unsinn«, lachte er. »Ich liebe das Kind einfach, das ist alles, 
Frau Heller.« 

»Sie sind gut zu mir und Annemarie«, antwortete sie. »Wenn 
ich nur wüßte, weshalb.« 

Dann gingen die großen Ferien zu Ende; der Herbst war da, die 
Landschaft überdeutlich, rot und gelb, wie unter einer 


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gewaltigen Lupe. Matthäi war es, als ob eine große Gelegenheit 
verpaßt sei; dennoch wartete er weiter. Zäh und verbissen. Das 
Kind ging zu Fuß in die Schule, er ging ihm mittags und abends 
meistens entgegen, holte es mit seinem Wagen heim. Sein 
Vorhaben war immer unsinniger, unmöglicher, die 
Gewinnchance immer geringer, er wußte es genau; wie oft 
schon mußte der Mörder an der Tankstelle vorübergefahren 
sein, überlegte er, vielleicht täglich, sicher wöchentlich, und 
noch hatte sich nichts ereignet, noch tappte er im Dunkeln, 
noch zeigte sich kein Anhaltspunkt, nicht einmal die Spur eines 
Verdachts, nur Automobilisten, die kamen und gingen, 
bisweilen mit dem Mädchen schwatzten, harmlos, zufällig, 
undurchdringlich. Wer von ihnen war der Gesuchte, war es 
überhaupt einer von ihnen? Vielleicht hatte er nur deshalb 
keinen Erfolg, weil sein alter Beruf doch vielen bekannt war; 
das hatte er ja nicht vermeiden können, auch nicht damit 
gerechnet. Doch machte er weiter, wartete und wartete. Er 
konnte nicht mehr zurück; das Warten war die einzige Methode, 
auch wenn es ihn aufrieb, auch wenn er manchmal nahe daran 
war, die Koffer zu packen, wegzureisen, fluchtartig, 
meinetwegen nach Jordanien; auch wenn er manchmal 
fürchtete, den Verstand zu verlieren. Dann gab es Stunden, 
Tage, wo er gleichgültig wurde, apathisch, zynisch, den Dingen 
ihren Lauf ließ, auf der Bank vor der Tankstelle saß, einen 
Schnaps um den andern trank, vor sich hin stierte, 
Zigarrenstummel auf dem Boden. Dann raffte er sich wieder 
hoch, sank aber immer mehr in seinen gleichgültigen Zustand 
zurück, verdöste die Tage, die Wochen im absurden 
grausamen Warten. Verloren, verquält, hoffnungslos und doch 
voll Hoffnung. Einmal aber, als er dasaß, unrasiert, müde, 
ölverschmiert, schrak er auf. Plötzlich kam es ihm zum 
Bewußtsein, daß Annemarie noch nicht von der Schule zurück 
war. Er machte sich auf den Weg, zu Fuß. Die ungeteerte 
staubige Straße stieg hinter dem Hause leicht bergan, senkte 
sich dann, führte über eine verdorrte Ebene, durchquerte den 
Wald, von dessen Rand man das Dorf von weitem sehen 
konnte, alte Häuser um eine Kirche geduckt, blauer Rauch über 
den Schornsteinen. Auch war von hier der Weg zu überblicken. 


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den Annennarie kommen mußte, doch war keine Spur von ihr zu 
sehen. Matthäi wandte sich aufs neue dem Walde zu, gespannt 
auf einmal, hellwach; niedere Tannen, Gestrüpp, rot und braun 
raschelndes Laub am Boden, das Hämmern des Spechts 
irgendwo im Hintergrund, wo sich größere Tannen vor den 
Himmel schoben, zwischen denen die Sonne in schrägen 
Strahlen hindurchbrach. Matthäi verließ den Weg, zwängte sich 
durch Dornen, Unterholz; Äste schlugen ihm ins Gesicht. Er 
erreichte eine Lichtung, schaute sich verwundert um, er hatte 
sie noch nie bemerkt. Von der anderen Waldseite her mündete 
ein großer Weg ein, der wohl dazu diente, auf ihm Abfälle vom 
Dorfe herzuschaffen, denn ein Berg von Asche türmte sich in 
der Lichtung. An seinen Flanken lagen Konservendosen, 
rostige Drähte und sonstiges Zeug, eine Ansammlung von 
Unrat, die sich zu einem Bächlein hinab senkte, das mitten in 
der Lichtung murmelte. Dann erst erspähte Matthäi das 
Mädchen. Es saß am Ufer des kleinen silbrigen Gewässers, die 
Puppe neben sich und den Schulsack. 

»Annemarie«, rief Matthäi. 

»Ich komme ja schon«, antwortete das Mädchen, blieb aber 
sitzen. 

Matthäi kletterte vorsichtig über den Abfallhaufen und blieb 
schließlich neben dem Kind stehen. 

»Was machst du denn hier?« fragte er. 

»Warten.« 

»Auf wen denn?« 

»Auf den Zauberer.« 

Das Mädchen hatte nichts als Märchen im Kopf; bald wartete es 
auf eine Fee, bald auf einen Zauberer; es war wie eine 
Verhöhnung seines eigenen Wartens. Die Verzweiflung kam 
wieder über ihn, die Einsicht in die Nutzlosigkeit seines Tuns 
und das lähmende Wissen, daß er trotzdem warten mußte, weil 
er nichts anderes mehr tun konnte als warten, warten und 
warten. 


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»Komm nun«, sagte er gleichgültig, nahm das Kind an der 
Hand und ging mit ihm durch den Wald zurück, setzte sich 
wieder auf die Bank, stierte wieder vor sich hin; die Dämmerung 
kam, die Nacht; alles war ihm gleichgültig geworden; er saß da, 
rauchte, wartete und wartete, mechanisch, stur, unerbittlich, nur 
manchmal flüsternd, beschwörend, ohne es zu wissen: Komm 
doch, komm, komm, komm; unbeweglich im weißen Mondlicht, 
schlief dann plötzlich ein, wachte steif durchfroren in der 
Morgendämmerung auf, kroch ins Bett. 

Doch am nächsten Tag kam Annemarie etwas früher aus der 
Schule zurück als sonst. Matthäi hatte sich gerade von seiner 
Bank erhoben, um das Mädchen abzuholen, als es daherkam, 
den Schulsack auf dem Rücken, leise vor sich hin singend und 
hüpfend, von einem Bein auf das andere wechselnd. Die Puppe 
hing von seiner Hand hinunter, die kleinen Füße schepperten 
über den Boden. 

»Schulaufgaben?« fragte Matthäi. 

Annemarie schüttelte den Kopf, weitersingend: Maria saß auf 
einem Stein, und ging ins Haus. Er ließ sie gehen, er war 

zu verzweifelt, zu ratlos, zu müde, um ihr neue Märchen zu 
erzählen, sie mit neuen Spielen zu locken. 

Doch als die Heller heimkam, fragte sie: »War Annemarie 
lieb?« 

»Sie war doch in der Schule«, antwortete Matthäi. 

Die Heller schaute ihn erstaunt an: »In der Schule? Annemarie 
hatte doch frei, Lehrerkonferenz oder so.« 

Matthäi wurde aufmerksam. Die Enttäuschung der letzten 
Woche war auf einmal verflogen. Er witterte, daß die Erfüllung 
seines Höffens, seiner wahnwitzigen Erwartung nahe war. Er 
beherrschte sich mit Mühe. Er fragte die Heller nicht mehr aus. 
Er drang auch nicht weiter in das Mädchen. Er fuhr aber am 
nächsten Nachmittag ins Dorf und ließ den Wagen in einer 
Seitengasse. Er wollte das Mädchen heimlich beobachten. Es 
ging gegen vier. Aus den Fenstern drang Singen, dann 
Geschrei, die Schüler kamen, tollten herum, Kämpfe zwischen 
Buben, Steine flogen, Mädchen Arm in Arm; doch war 


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Annemarie nicht unter ihnen. Die Lehrerin kam, reserviert, 
Matthäi streng musternd. Er vernahm, daß Annemarie nicht in 
die Schule gekommen war, ob sie krank sei, schon vorgestern 
nachmittag sei sie nicht gekommen, und die Entschuldigung 
habe sie auch nicht gebracht. Matthäi antwortete, das Kind sein 
in der Tat krank, grüßte und fuhr wie von Sinnen in den Wald 
zurück. Er stürmte zur Lichtung, fand nichts. Erschöpft, schwer 
atmend, zerkratzt und blutend von den Dornen kehrte er zum 
Wagen zurück und fuhr zur Tankstelle, sah aber, bevor er sie 
erreichte, das Mädchen vor sich dem Straßenrand entlang 
hüpfend. Er hielt an. 

»Steig ein, Annemarie«, sagte er freundlich, nachdem er die 
Türe geöffnet hatte. 

Matthäi reichte dem Mädchen die Hand, und es kletterte ins 
Auto. Er stutzte. Das Händchen des Mädchens war klebrig. Und 
als er seine eigene Hand betrachtete, wies sie Spuren von 
Schokolade auf. 

»Von wem hast du Schokolade bekommen?« fragte er. 

»Von einem Mädchen«, antwortete Annemarie. 

»In der Schule?« 

Annemarie nickte. Matthäi antwortete nichts. Er fuhr den 
Wagen vor das Haus. Annemarie kletterte hinaus und setzte 
sich auf die Bank neben der Tankstelle. Matthäi beobachtete 
sie unauffällig. Das Kind schob etwas in den Mund und kaute. 
Er kam langsam auf das Mädchen zu. 

»Zeig her«, sagte er und öffnete vorsichtig das leicht geballte 
Händchen des Mädchens. Darin lag eine angebissene 
stachelige Schokoladekugel. Eine Trüffel. 

»Hast du noch mehr davon?« fragte Matthäi. Das Mädchen 
schüttelte den Kopf. 

Der Kommissär griff in Annemaries Rocktasche, zog das 
Taschentuch hervor, wickelte es auf; zwei weitere Trüffel lagen 
darin. 

Das Mädchen schwieg. 


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Auch der Kommissär sagte nichts. Ein ungeheures Glück 
bemächtigte sich seiner. Er setzte sich neben das Kind auf die 
Bank. 

»Annemarie«, fragte er endlich, und seine Stimme zitterte, 
während er die beiden stacheligen Schokoladekugeln sorgfältig 
in der Hand behielt. 

»Der Zauberer hat sie dir gegeben?« 

Das Mädchen schwieg. 

»Er hat dir verboten, von euch zu erzählen?« fragte Matthäi. 
Keine Antwort. 

»Das sollst du auch nicht«, sagte Matthäi freundlich. »Er ist ein 
lieber Zauberer. Geh nur morgen wieder zu ihm.« 

Das Mädchen strahlte auf einmal wie in gewaltiger Freude, 
umarmte Matthäi, heiß vor Glück, und rannte dann in sein 
Zimmer hinauf. 

Am nächsten Morgen, um acht, ich war soeben in meinem Büro 
angekommen, legte mir Matthäi die Trüffeln auf den 
Schreibtisch; er grüßte kaum vor Erregung. Er war in seinem 
früheren Anzug, doch ohne Krawatte und unrasiert. Er nahm 
sich eine Zigarre aus der Kiste, die ich ihm hinschob, paffte los. 

»Was soll ich mit dieser Schokolade?« fragte ich hilflos. 

»Die Igel«, antwortete Matthäi. 

Ich schaute ihn überrascht an, drehte die kleinen 
Schokoladekugeln hin und her. »Wieso?« 

»Ganz einfach«, erklärte er, »der Mörder gab dem Gritli Moser 
Trüffeln, und es machte daraus Igel. Die Kinderzeichnung ist 
enträtselt.« 

Ich lachte: »Wie wollen Sie das beweisen?« 

»Nun, das gleiche ist mit Annemarie geschehen«, antwortete 
Matthäi und berichtete. 

Ich war auf der Stelle überzeugt. Ich ließ Henzi, Feiler und vier 
Polizeisoldaten kommen, gab meine Anweisungen und 
unterrichtete den Staatsanwalt. Dann fuhren wir los. Die 


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Tankstelle war verwaist. Frau Heller hatte das Kind in die 
Schule gebracht und war dann in die Fabrik gegangen. 

»Weiß die Heller, was vorgefallen ist?« fragte ich. 

Matthäi schüttelte den Kopf. »Sie ist ahnungslos.« 

Wir gingen zur Lichtung. Wir untersuchten sie sorgfältig, doch 
fanden wir nichts. Dann verteilten wir uns. Es ging gegen 
Mittag; Matthäi kehrte zur Tankstelle zurück, um keinen 
Verdacht zu erregen. Der Tag war günstig, Donnerstag, das 
Kind hatte nachmittags keine Schule; Gritli Moser wurde 
ebenfalls an einem Donnerstag ermordet, schoß es mir durch 
den Sinn. Es war ein heller Herbsttag, heiß, trocken, überall das 
Gesumm von Bienen und Wespen und anderen Insekten, 
Vogelgekreisch, ganz von fern hallende Axtschläge. Zwei Uhr, 
deutlich waren die Glocken vom Dorfe 

her zu hören, und dann erschien das Mädchen, brach mir 
gegenüber durch das Gesträuch, mühelos, hüpfend, springend, 
lief zum kleinen Bach mit seiner Puppe, setzte sich, schaute 
ohne Unterlaß gegen den Wald, aufmerksam, gespannt, mit 
glänzenden Augen, schien jemand zu erwarten, doch konnte es 
uns nicht sehen. Wir hatten uns hinter den Bäumen und 
Sträuchern verborgen. Dann kam Matthäi vorsichtig zurück, 
lehnte sich an einen Baumstamm in meiner Nähe, wie ich es 
ebenfalls tat. 

»Ich denke, in einer halben Stunde wird er kommen«, flüsterte 
er. 

Ich nickte. 

Es war alles aufs peinlichste organisiert. Der Zugang von der 
Hauptstraße her zum Walde war überwacht, sogar ein 
Funkgerät an Ort und Stelle. Wir waren alle bewaffnet, 
Revolver. Das Kind saß da am Bächlein, fast unbeweglich, voll 
staunender, banger, wundervoller Erwartung, den Abfallhaufen 
im Rücken, bald in der Sonne, bald im Schatten irgendeiner der 
großen dunklen Tannen; kein Laut war zu hören außer dem 
Summen der Insekten und dem Trillern der Vögel; nur 
manchmal sang das Mädchen vor sich hin mit seiner dünnen 
Stimme »Maria saß auf einem Stein«, immer wieder, immer die 


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gleichen Worte und Verse; und um den Stein herum, auf dem 
es saß, häuften sich rostig die Konservendosen, Kanister und 
Drähte; und manchmal, nur in unvermittelten Stößen, brauste 
der Wind über die Lichtung her, Laub tanzte auf, raschelte, und 
dann war es wieder still. Wir warteten. Es gab für uns nichts 
mehr in der Welt als diesen durch den Herbst verzauberten 
Wald mit dem kleinen Mädchen im roten Rock auf der Lichtung. 
Wir warteten auf den Mörder, entschlossen, gierig nach 
Gerechtigkeit, Abrechnung, Strafe. Die halbe Stunde war schon 
längst vorüber; eigentlich schon zwei. Wir warteten und 
warteten, warteten nun selbst, wie Matthäi wochen-, 
monatelang gewartet hatte. Es wurde fünf; die ersten Schatten, 
dann die Dämmerung, das Verblassen, das Stumpfwerden all 
der leuchtenden Farben. Das Mädchen hüpfte davon. Keiner 
von uns sagte ein Wort, nicht einmal Henzi. 

»Wir kommen morgen wieder«, bestimmte ich, »wir 

übernachten in Chur. Im >Steinbock<.« 

Und so warteten wir denn auch am Freitag und am Samstag. 
Eigentlich hätte ich graubündische Polizei nehmen müssen. 
Aber es war unsere Angelegenheit. Ich wollte keine 
Erklärungen abgeben müssen, wünschte keine Einmischung. 
Der Staatsanwalt rief schon am Donnerstagabend an, begehrte 
auf, protestierte, drohte, nannte alles einen Unsinn, tobte, 
verlangte unsere Rückkehr. Ich blieb fest, setzte unser Bleiben 
durch, ließ nur einen der Polizeisoldaten zurückkehren. Wir 
warteten und warteten. Es ging uns jetzt eigentlich nicht mehr 
um das Kind und nicht mehr um den Mörder, es ging uns um 
Matthäi, der Mann mußte recht behalten, an sein Ziel kommen, 
sonst geschah ein Unglück; wir fühlten es alle, sogar Henzi, der 
sich überzeugt gab, Freitagabend bestimmt erklärte, der 
unbekannte Mörder komme samstags, wir hätten ja den 
unumstößlichen Beweis, die Igel eben, dazu käme das Kind 
doch immer wieder, sitze regungslos an derselben Stelle, man 
sehe ja, daß es jemand erwarte. So standen wir in unseren 
Verstecken, hinter unseren Bäumen, Sträuchern, regungslos, 
stundenlang, starrten auf das Kind, auf die Konservenbüchsen, 
auf das Drahtgeschlinge, auf das Aschengebirge, rauchten 


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stumm vor uns hin, ohne miteinander zu sprechen, ohne uns zu 
bewegen, hörten immer wieder singen »Maria saß auf einem 
Stein«. Am Sonntag war die Lage schwieriger. Der Wald war 
plötzlich durchzogen von Spaziergängern, des anhaltenden 
schönen Wetters wegen; irgendein gemischter Chor mit 
Dirigent brach in die Lichtung ein, lärmend, schwitzend, 
hemdärmlig, stellte sich auf. Es dröhnte gewaltig: »Das 
Wandern ist des Müller Lust, das Wandern«. Zum Glück waren 
wir nicht in Uniform hinter unseren Sträuchern und Bäumen. 
»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre ...«, »doch uns geht's 
immer je länger je schlimmer«; später kam ein Liebespaar, 
benahm sich ungeniert, trotz der Anwesenheit des Kindes, das 
einfach dasaß, in unbegreiflicher Geduld, in unfaßlicher 
Erwartung, nun doch schon vier Nachmittage lang. Wir warteten 
und warteten. Die drei Polizeisoldaten waren nun auch 
zurückgekehrt samt dem Funkgerät; wir waren nur noch zu 
viert, außer Matthäi und mir nur noch Henzi und Feiler, wenn 
auch das eigentlich nicht mehr zu verantworten war, aber 
genau besehen, kamen nur drei Nachmittage in Betracht, an 
denen wir gewartet hatten, da am Sonntag für den Mörder das 
Terrain zu unsicher gewesen sein mußte; da hatte Henzi recht, 
und so warteten wir denn auch am Montag. Dienstagmorgen 
reiste auch Henzi zurück. Irgend jemand mußte schließlich in 
der Kasernenstraße zum Rechten sehen. Doch war Henzi bei 
seiner Abreise immer noch von unserem Erfolg überzeugt. Wir 
warteten und warteten und warteten, lauerten und lauerten, 
jeder nun unabhängig von den andern, da wir ja doch zu 
wenige waren, um eine richtige Organisation aufzuziehen. 
Feiler hatte sich in der Nähe des Waldweges hinter einem 
Gesträuch postiert, wo er im Schatten lag, vor sich hin döste in 
der sommerlichen Herbsthitze und einmal auch so heftig 
schnarchte, daß der Wind sein Schnarchen über die Lichtung 
hinwehte; es war dies am Mittwoch. Matthäi dagegen stand auf 
der Seite der Lichtung, die gegen die Tankstelle lag, und ich 
beobachtete den Schauplatz von der andern Seite, ihm 
gegenüber. So lauerten wir und lauerten, erwarteten den 
Mörder, den Igelriesen, zuckten bei jedem fahrenden Auto 
zusammen, das wir von der Landstraße her hörten, das Kind 


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zwischen uns, das jeden Nachmittag in der Lichtung am kleinen 
Bach saß, singend »Maria saß auf einem Stein«, stur, 
versponnen, unbegreiflich; wir begannen es zu verabscheuen, 
zu hassen. Manchmal kam es natürlich lange nicht, trieb sich in 
der Nähe des Dorfes herum mit seiner Puppe, doch nicht in 
allzu großer Nähe, da es ja die Schule schwänzte, was auch 
nicht ohne Schwierigkeit abgegangen war und ein Gespräch 
meinerseits unter vier Augen mit der Lehrerin notwendig 
gemacht hatte, um Recherchen seitens der Schule zu 
vermeiden. Ich tönte vorsichtig den Sachverhalt an, wies mich 
aus, erlangte eine zögernde Einwilligung. Das Kind umkreiste 
dann den Wald, wir verfolgten es mit Feldstechern, doch kehrte 
es immer wieder in die Waldlichtung zurück - außer am 
Donnerstag, wo es zu unserer Verzweiflung in der Nähe der 
Tankstelle blieb. So mußten wir, ob wir wollten oder nicht, auf 
Freitag hoffen. Nun hatte ich mich zu entscheiden; Matthäi war 
schon lange verstummt, stand hinter seinem Baum, als das 
Kind am andern Tage wieder gehüpft kam mit seinem roten 
Kleide und seiner Puppe, sich niedersetzte wie an den 
Vortagen. Herrliches Herbstwetter, das anhielt, immer noch 
stark, farbig, voll Nähe, ein Kraftstrotzen vor dem Verfall; aber 
der Staatsanwalt hielt es kaum eine halbe Stunde aus. Er war 
gegen fünf Uhr abends gekommen, im Wagen mit Henzi, 
erschien ganz unvermutet, tauchte einfach auf, trat zu mir, der 
ich schon seit ein Uhr mittags da stand, immer von einem Fuß 
auf den andern wechselnd, starrte zum Kinde hinüber, rot vor 
Zorn, »Maria saß auf einem Stein«, wehte das Stimmlein zu 
uns herüber; ich konnte das Lied schon längst nicht mehr hören 
und das Kind schon längst nicht mehr sehen, seinen gräßlichen 
Mund mit den Zahnlücken, die dünnen Zöpfe, das 
geschmacklose rote Kleidchen; das Mädchen schien mir nun 
widerlich, gemein, ordinär, dumm, ich hätte es erwürgen 
können, töten, zerreißen, nur um das blödsinnige »Maria saß 
auf einem Stein« nicht mehr zu vernehmen. Es war zum 
Wahnsinnigwerden. Alles war da, wie es immer da war, stupid, 
sinnlos, trostlos, nur daß das Laub sich immer mächtiger 
häufte, die Windstöße sich vielleicht mehrten und die Sonne 
noch goldiger über dem idiotischen Abfallhaufen lag; es war 


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nicht nnehr zunn Ertragen, und dann stampfte der Staatsanwalt 
auf einmal los, es war wie eine Befreiung, brach durch das 
Gestrüpp, schritt geradewegs zum Kinde, gleichgültig dagegen, 
daß er schuhtief in die Asche sank, und als wir ihn zum Kinde 
marschieren sahen, brachen wir auch hervor; nun mußte 
Schluß gemacht werden. 

»Auf wen wartest du?« schrie der Staatsanwalt das Mädchen 
an, das ihn erschrocken auf seinem Steine anstarrte, die Puppe 
umklammernd. »Auf wen wartest du, willst du antworten, du 
verdammtes Ding?« 

Und nun hatten wir das Mädchen alle erreicht, umringten es, 
und es starrte uns an voll Entsetzen, voll Grauen, voll 
Nichtbegreifen. 

»Annemarie«, sagte ich, und meine Stimme zitterte vor Zorn, 
»du hast Schokolade bekommen vor einer Woche. Du wirst 
dich genau daran erinnern, Schokolade wie kleine Igel. Hat dir 
ein Mann in schwarzen Kleidern diese Schokolade gegeben?« 

Das Mädchen antwortete nicht, schaute mich nur an, Tränen in 
den Augen. 

Nun kniete Matthäi vor dem Kinde nieder, umfaßte die kleinen 
Schultern. »Sieh, Annemarie«, erklärte er ihm, »du mußt uns 
sagen, wer dir die Schokolade gab. Du mußt genau erzählen, 
wie dieser Mann aussah. Ich kannte einmal ein Mädchen«, fuhr 
er eindringlich fort, ging es doch jetzt um alles, »ein Mädchen, 
auch so in einem roten Röcklein wie du, dem gab ein großer 
Mann in schwarzen Kleidern auch Schokolade. Die gleichen 
stachligen Kügelchen, wie du sie gegessen hast. Und dann ist 
das Mädchen mit dem großen Manne in den Wald gegangen, 
und dann hat der große Mann das Mädchen mit einem Messer 
getötet.« 

Er schwieg. Das Mädchen antwortete immer noch nichts, starrte 
ihn schweigend an, die Augen weit aufgerissen. 

»Annemarie«, schrie Matthäi, »du mußt mir die Wahrheit 
sagen. Ich will doch nur, daß dir nichts Böses geschieht.« »Du 
lügst«, antwortete das Mädchen leise. »Du lügst.« Da verlor der 
Staatsanwalt zum zweitenmal die Geduld. »Du dummes Ding«, 


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schrie er und packte das Kind am Arm, rüttelte es, »willst du 
jetzt sagen, was du weißt!« Und wir schrien mit, sinnlos, weil wir 
einfach die Nerven verloren hatten, rüttelten das Mädchen 
ebenfalls, begannen auf das Kind einzuschlagen, verprügelten 
den kleinen Leib, der zwischen den Konservenbüchsen in 
Asche und rotem Laub lag, regelrecht, grausam, wütend, 
schreiend. 

Das Mädchen ließ unser Toben stumm über sich ergehen, eine 
Ewigkeit lang, wenn auch alles sicher nur wenige Sekunden 
dauerte, schrie dann aber mit einem Male mit einer so 
unheimlichen Stimme auf, daß wir erstarrten. »Du lügst, du 
lügst, du lügst!« Wir ließen es entsetzt fahren, durch sein 
Gebrüll wieder zur Vernunft gekommen und von Grauen und 
Scham über unser Vorgehen erfüllt. 

»Wir sind Tiere, wir sind Tiere«, keuchte ich. Das Kind rannte 
über die Lichtung dem Waldrand entgegen. »Du lügst, du lügst, 
du lügst«, schrie es dabei aufs neue und so grauenhaft, daß wir 
dachten, es sei von Sinnen, doch lief es geradewegs der Heller 
in die Arme, die nun auch zu allem Unglück auf der Lichtung 
erschien. Die hatte uns noch gefehlt. Sie war über alles 
informiert; die Lehrerin hatte eben doch geschwatzt, als die 
Frau an der Schule vorbeigegangen war; ich wußte es, ohne 
daß ich zu fragen brauchte. Und nun stand diese Unglücksfrau 
da mit ihrem Kinde, das sich schluchzend an ihren Schoß 
preßte, und starrte uns mit dem gleichen Blick an wie vorhin die 
Tochter. Natürlich kannte sie jeden von uns. Feiler, Henzi und 
leider auch den Staatsanwalt; die Situation war peinlich und 
grotesk, wir waren alle verlegen und kamen uns lächerlich vor; 
das Ganze war nichts weiter als eine lausige, hundserbärmliche 
Komödie. »Lügt, lügt, lügt«, schrie das Kind immer noch außer 
sich, »lügt, lügt, lügt.« Da ging Matthäi auf die beiden zu, 
ergeben, unsicher. 

»Frau Heller«, sagte er höflich, ja demütig, was doch ganz 
unsinnig war, weil es jetzt nur eines gab, Schluß machen mit 
der ganzen Sache, Schluß, Schluß für immer, den Fall 
erledigen, endlich einmal loskommen von all den 
Kombinationen, mochte es den Mörder geben oder nicht. »Frau 


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Heller, ich habe festgestellt, daß Annemarie von einer 
unbekannten Person Schokolade bekam. Ich habe den 
Verdacht, daß es sich um die gleiche Person handeln muß, die 
vor einigen Wochen ein Mädchen mit Schokolade in einen Wald 
gelockt und getötet hat.« 

Er sprach exakt und in einem so amtlichen Ton, daß ich hätte 
laut herauslachen können. Die Frau sah ihm ruhig ins Gesicht. 
Dann sprach sie ebenso förmlich und höflich wie Matthäi. »Herr 
Doktor Matthäi«, fragte sie leise, »haben Sie Annemarie und 
mich in Ihre Tankstelle genommen, nur um diese Person zu 
finden?« 

»Es gab keinen anderen Weg, Frau Heller«, antwortete der 
Kommissär. 

»Sie sind ein Schwein«, antwortete die Frau ruhig, ohne eine 
Miene zu verziehen, nahm ihr Kind und ging in den Wald hinein, 
gegen die Tankstelle zu. 

Wir standen da, auf der Lichtung, schon halb im Schatten, 
umgeben von den alten Konservenbüchsen und von 
Drahtgeschlinge, die Füße in Asche und Laub. Alles war 
vorüber, das ganze Unternehmen sinnlos, lächerlich geworden. 
Ein Debakel, eine Katastrophe. Nur Matthäi hatte sich gefaßt. 
Er war geradezu steif und würdig in seinem blauen 
Monteuranzug. Er verneigte sich, ich traute meinen Augen und 
Ohren nicht, knapp vor dem Staatsanwalt und sagte: »Herr 
Doktor Burkhard, es geht jetzt nur darum, daß wir weiterwarten. 
Es gibt nichts anderes. Warten, warten und nochmals warten. 
Wenn Sie mir dazu weitere sechs Mann und das Funkgerät zur 
Verfügung stellen könnten, wäre das genügend.« Der 
Staatsanwalt musterte meinen ehemaligen Untergebenen 
erschrocken. Er hatte alles, nur nicht dies erwartet. Er war eben 
noch entschlossen gewesen, uns allen seine Meinung zu 
sagen; nun schluckte er ein paarmal leer, fuhr sich mit der 
Hand über die Stirne, kehrte dann auf einmal um und stampfte 
mit Henzi durchs Laub dem Walde entgegen, verschwand. Auf 
ein Zeichen von mir ging auch Feiler. 

Matthäi und ich waren allein. 


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»Hören Sie nnir jetzt einnnal zu«, schrie ich, entschlossen, den 
Mann endlich zur Vernunft zu bringen, wütend, daß ich selbst 
den Unsinn unterstützt und ermöglicht hatte, »die Aktion ist 
gescheitert, das müssen wir zugeben, wir haben jetzt mehr als 
eine Woche gewartet, und niemand ist gekommen.« 

Matthäi antwortete nichts. Er schaute sich nur um, aufmerksam, 
spähend. Dann ging er zum Waldrand, umschritt die Lichtung, 
kam wieder zurück. Ich stand immer noch auf dem 
Abfallhaufen, knöcheltief in alter Asche. 

»Das Kind hat auf ihn gewartet«, meinte er. 

Ich schüttelte den Kopf, widersprach. »Das Kind kam hierher, 
um allein zu sein, um am Bach zu sitzen, zu träumen mit seiner 
Puppe und >Maria saß auf einem Stein< zu singen. Daß es auf 
jemand gewartet haben soll, ist eine Auslegung, die wir dem 
Vorfall gegeben haben.« Matthäi hörte mir aufmerksam zu. 

»Annemarie hat die Igel bekommen«, sagte er hartnäckig, 
immer noch überzeugt. 

»Annemarie bekam Schokolade von jemandem«, sagte ich, 
»das stimmt. Wer kann einem Kinde nicht Schokolade 
schenken! Daß die Trüffeln aber die Igel auf der 
Kinderzeichnung seien, auch das ist nur Ihre Auslegung, 
Matthäi, und nichts beweist, daß es auch in der Wirklichkeit so 
ist.« 

Matthäi antwortete wieder nichts. Er begab sich aufs neue zum 
Waldrande, umschritt die Lichtung noch einmal, suchte an einer 
Stelle, wo sich das Laub angehäuft hatte, irgend etwas, gab es 
dann auf, kehrte zu mir zurück. 

»Das ist ein Mordort«, sagte er, »das spürt man, ich werde 
weiterwarten.« 

»Das ist doch Unsinn«, antwortete ich, auf einmal von Grauen 
erfüllt, voll Ekel, fröstelnd, müde. 

»Er wird hierher kommen«, sagte Matthäi. 

Ich schrie ihn an, außer mir: »Quatsch, Blödsinn, Idioterei!« 

Er schien gar nicht hinzuhören. »Gehen wir zur Tankstelle 
zurück«, sagte er. 


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Ich war froh, den verwünschten Unglücksplatz endlich 
verlassen zu können. Die Sonne stand nun tief, die Schatten 
waren riesenlang, das weite Tal glühte in kräftigem Gold, der 
Himmel darüber von einem reinen Blau; doch war mir alles 
verhaßt, ich kam mir vor wie in eine unermeßliche 
Kitsch Postkarte verbannt. Dann tauchte die Kantonsstraße auf, 
die rollenden Automobile, offene Wagen mit Menschen in 
bunten Kleidern; Reichtum, der dahergeschwemmt kam, 
vorüberbrauste. Es war absurd. Wir erreichten die Tankstelle. 
Neben den Benzinsäulen wartete Feiler in meinem Wagen, 
schon wieder halb eingedöst. Auf der Schaukel saß die 
Annemarie, sang blechern wieder vor sich hin, wenn auch 
verheult »Maria saß auf einem Stein«, und am Türpfosten 
lehnte ein Bursche, wahrscheinlich ein Arbeiter der Ziegelfabrik, 
mit offenem Hemd und behaarter Brust, eine Zigarette im 
Mund, grinste. Matthäi achtete nicht auf ihn. Er ging in die 
kleine Stube, zum Tisch, wo wir schon gesessen hatten; ich 
trottete ihm nach. Er stellte Schnaps auf, schenkte sich immer 
wieder ein. Ich konnte nichts trinken, so angewidert war ich von 
allem. Die Heller war nicht zu sehen. 

»Es wird schwierig sein, was ich zu tun habe«, meinte er, »aber 
die Lichtung ist ja nicht weit, oder glauben Sie, daß ich besser 
hier warte, bei der Tankstelle?« 

Ich antwortete nichts. Matthäi ging hin und her, trank, kümmerte 
sich nicht um mein Schweigen. 

»Nur dumm, daß die Heller und Annemarie es nun wissen«, 
sagte er, »aber das wird sich einrenken lassen.« 

Draußen der Lärm der Straße, das plärrende Kind »Maria saß 
auf einem Stein«. 

»Ich gehe nun, Matthäi«, sagte ich. 

Er trank weiter, schaute mich nicht einmal an. »Ich werde teils 
hier, teils bei der Lichtung warten«, entschied er. 

»Leben Sie wohl«, sagte ich, verließ den Raum, trat ins Freie, 
am Burschen, am Mädchen vorbei, winkte Feiler zu, der von 
seiner Döserei aufschrak, herangefahren kam und mir die 
Wagentüre öffnete. 


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»In die Kasernenstraße«, befahl ich. 

Dies die Geschichte, soweit mein armer Matthäi darin 
wesentlich vorkommt, fuhr der ehemalige Kommandant der 
Kantonspolizei in seiner Erzählung fort. [Hier ist nun wohl der 
Ort, einerseits zu erwähnen, daß der Alte und ich natürlich 
schon längst unsere Fahrt Chur-Zürich beendet hatten und nun 
in der in seinem Bericht öfters erwähnten und gelobten 
»Kronenhalle« saßen, selbstverständlich von Emma bedient 
und unter dem Bilde von Gubler - das jenes von Miro abgelöst 
hatte - wie dies alles nun einmal der Gewohnheit des Alten 
entsprach; des weiteren, daß wir im übrigen schon gegessen 
hatten - ab voiture, Bollito milanese; auch dies war 
bekannterweise eine seiner Traditionen, warum da nicht 
mitmachen -, ja, es ging nun schon gegen vier, und nach dem 
»Kaffee Partagas«, wie der Kommandant seine Passion 
nannte, zum Espresso eine Havanna zu rauchen, offerierte er 
mir zum folgenden Reserve du Patron noch eine zweite 
Charlotte. Anderseits aber wäre noch beizufügen, rein 
technisch, der schriftstellerischen Ehrlichkeit und dem Metier 
zuliebe, daß ich die Erzählung des redegewaltigen Alten 
natürlich nicht immer so wiedergegeben habe, wie sie mir 
berichtet wurde, wobei ich nicht etwa an den Umstand denke, 
daß wir natürlich Schweizerdeutsch sprachen, sondern an jene 
Teile seiner Geschichte, die er nicht von seinem Standpunkte 
aus, von seinem Erlebnis her, sondern gleichsam objektiv als 
Handlung an sich erzählte, wie etwa bei der Szene, in der 
Matthäi sein Versprechen ablegt. Bei solchen Stellen war 
einzugreifen, zu formen, neu zu formen, wenn ich mir auch die 
größte Mühe gab, die Vorkommnisse nicht zu verfälschen, 
sondern nur als Material, das mir der Alte lieferte, nach 
bestimmten Gesetzen der Schriftstellerei zu bearbeiten, 
druckfertig zu machen.] 

Natürlich, führte er des weiteren aus, kehrte ich noch einige 
Male zu Matthäi zurück, immer mehr überzeugt, daß er mit 
seinem Verdacht, der Hausierer sei unschuldig gewesen, 
unrecht gehabt hatte, weil sich auch in den folgenden Monaten, 
Jahren kein neuer Mord ereignete. Nun, ich brauche nicht 


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ausführlicher zu werden; der Mann verkam, versoff, verblödete; 
es gab weder etwas zu helfen noch etwas zu ändern; die 
Burschen schlichen und pfiffen in den Nächten nicht mehr 
vergeblich um die Tankstelle herum; es ging böse zu, die 
Bündner Polizei machte einige Razzien. Ich mußte meinen 
Kollegen in Chur reinen Wein einschenken, worauf sie ein Auge 
zudrückten oder beide. Vernünftiger als bei uns sind sie dort 
immer gewesen. So nahm denn eben alles seinen Lauf ins 
Fatale, und das Resultat haben Sie ja auf unserer Fahrt selbst 
gesehen. Es ist traurig genug, besonders weil die Kleine, die 
Annemarie, auch nicht besser wurde. Vielleicht nur deshalb, 
weil sich gleich verschiedene Organisationen zu ihrer Rettung 
in Bewegung setzten. Das Kind wurde versorgt, lief aber immer 
wieder davon und zur Tankstelle zurück, in welcher die Heller 
vor zwei Jahren die schäbige Schenke einrichtete; weiß der 
Teufel, wie sie sich die Bewilligung erschlich, jedenfalls gab 
dies der Kleinen den Rest. Sie machte mit. In jeder Beziehung. 
Vor vier Monaten hat sie gerade ein Jahr Hindelbank hinter sich 
gebracht, um es offen zu sagen; aber eine Lehre hat das 
Mädchen nicht daraus gezogen. Sie haben es ja konstatieren 
können, schweigen wir davon. Doch Sie werden sich nun schon 
längst gefragt haben, was denn meine Geschichte mit der Kritik 
zu tun hat, die ich an Ihrem Vortrag anbrachte, und weshalb ich 
denn Matthäi ein Genie nannte. Begreiflicherweise. Sie werden 
einwenden, ein ausgefallener Einfall müsse ja noch lange nicht 
richtig oder gar ein genialer Einfall sein. Auch das stimmt. Ich 
kann mir sogar vorstellen, was Sie sich nun in Ihrem 
Schriftstellerhirn ausdenken. Man brauche nur, werden Sie sich 
listigerweise sagen, Matthäi recht bekommen und den Mörder 
fangen zu lassen, und schon ergebe sich der schönste Roman 
oder Filmstoff, die Aufgabe der Schriftstellerei bestehe 
schließlich darin, die Dinge durch einen bestimmten Dreh 
durchsichtig zu machen, damit die höhere Idee hinter ihnen 
durchschimmere, ahnbar werde, ja, durch einen solchen Dreh, 
durch den Erfolg Matthäis eben, werde mein verkommener 
Detektiv nicht nur interessant, sondern auch geradezu eine 
biblische Gestalt, eine Art moderner Abraham an Hoffnung und 
Glaube, und aus der sinnlosen Geschichte, daß nämlich einer. 


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weil er an die Unschuld eines Schuldigen glaube, einem Mörder 
nachforsche, den es gar nicht gebe, werde eine sinnvolle; der 
schuldige Hausierer werde nun eben im Reiche hoher Dichtung 
unschuldig, der nicht existierende Mörder existent, und aus 
einem Geschehnis, welches dahin tendiere, die menschliche 
Glaubenskraft und die menschliche Vernunft zu verspotten, 
werde nun eines, das diese Kräfte vielmehr verherrliche; ob 
sich die Tatsachen auch so verhalten hätten, sei gleichgültig, 
die Hauptsache sei schließlich, daß diese Fassung des 
Geschehens ebenfalls möglich scheine. So stelle ich mir Ihren 
Gedankengang ungefähr vor, und ich kann geradezu 
Voraussagen, daß diese Variante meiner Geschichte so 
erhebend ist und positiv, daß sie demnächst einfach erscheinen 
muß, sei es nun als Roman oder als Film. Alles werden Sie im 
großen und ganzen erzählen, wie ich es versucht habe, nur 
besser selbstverständlich. Sie sind schließlich ein Mann von der 
Branche, und nur am Schlüsse kommt dann eben wirklich der 
Mörder, erfüllt sich die Hoffnung, triumphiert der Glaube, womit 
die Erzählung für die christliche Welt doch noch annehmbar 
wird. Dazu sind noch weitere Milderungen denkbar. Ich schlage 
etwa vor, daß es für Matthäi, kaum hat er die Trüffeln entdeckt, 
in Erkenntnis der Gefahr, in der Annemarie schwebt, unmöglich 
wird, den Plan, das Kind als Köder zu benützen, weiter zu 
verfolgen, sei es aus reifer Menschlichkeit oder aus väterlicher 
Liebe zum Kinde, worauf er Annemarie mit seiner Mutter in 
Sicherheit bringen könnte und an das Bächlein eine große 
Puppe setzen würde. Gewaltig und feierlich käme dann der 
Mörder aus dem Walde auf das vermeintliche Kind 
zugeschritten, in der Abendsonne, Annemaries Zauberer, voll 
Lust, endlich wieder einmal mit dem Rasiermesser hantieren zu 
können; die Erkenntnis, daß er in eine teuflische Falle geraten, 
brächte ihn zur Raserei, zum Wahnsinnsausbruch, Kampf mit 
Matthäi und Polizei und dann vielleicht am Schluß - Sie müssen 
mir meine Dichterei schon verzeihen - ein ergreifendes 
Gespräch des verletzten Kommissärs mit dem Kinde, nicht 
lang, nur einige Sätze, warum nicht, das Mädchen wäre einfach 
seiner Mutter entwichen, um den geliebten Zauberer zu treffen, 
seinem unerhörten Glück entgegenzueilen, und so wäre sogar 


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noch ein Lichtblick voll sanfter Humanität und entsagungsvoller 
märchenhafter Poesie möglich nach all den Greueln; oder aber, 
was wahrscheinlicher ist, Sie werden etwas ganz anderes 
fabrizieren; ich kenne Sie ja nun ein wenig, wenn auch, Hand 
aufs Herz, mir Max Frisch näher legt; gerade die Sinnlosigkeit 
wird Sie reizen, die Tatsache, daß da einer an die Unschuld 
eines Schuldigen glaubt und nun einen Mörder sucht, den es 
nicht geben kann, wie wir die Situation treffend genug definiert 
haben: Aber nun werden Sie grausamer als die Realität, aus 
reinem Plaisir und um uns von der Polizei vollends ins 
Lächerliche zu ziehen: Matthäi würde nun tatsächlich einen 
Mörder finden, irgendeinen Ihrer komischen Heiligen, einen 
herzensguten Sektenprediger etwa, der natürlich in Wirklichkeit 
unschuldig und zum Bösen einfach unfähig wäre und gerade 
deshalb durch einen Ihrer boshaften Einfälle alle 
Verdachtsmomente auf sich ziehen würde. Diesen reinen Toren 
würde Matthäi umbringen, alle Beweise würden stimmen, 
worauf der glückliche Detektiv als Genie gepriesen und gefeiert 
wieder bei uns aufgenommen würde. Auch das ist denkbar. Sie 
sehen, ich bin Ihnen auf die Schliche gekommen. Doch werden 
Sie nun all mein Gerede nicht nur dem Reserve du Patron 
zuschreiben - wir sind beim zweiten Liter, zugegeben - sondern 
wohl auch spüren, daß ich noch das Ende der Geschichte zu 
erzählen habe, wenn auch widerwillig, denn daß diese 
Geschichte eben leider noch eine Pointe aufweist, brauche ich 
Ihnen nicht zu verheimlichen, und daß dies eine reichlich 
schäbige Pointe ist, werden Sie ahnen, so schäbig, daß sie 
einfach nicht zu verwenden ist, in keinem anständigen Roman 
oder Film. Sie ist so lächerlich, stupid und trivial, daß sie 
kurzerhand übergangen werden müßte, wollte man die 
Geschichte zu Papier bringen. Dabei ist ehrlicherweise 
zuzugeben, daß diese Pointe vorerst durchaus für Matthäi 
spricht, ihn ins richtige Licht rückt, ihn zu einem Genie werden 
läßt, zu einem Menschen, der die uns verborgenen Faktoren 
der Wirklichkeit so weit erahnte, daß er die Hypothesen und 
Annahmen durchstieß, von denen wir umstellt sind, und in die 
Nähe jener Gesetze drang, an die wir sonst nie herankommen, 
welche die Welt in Schwung halten. In die Nähe freilich nur. 


- 100 - 


Denn gerade dadurch, daß es nun eben diese grausige Pointe 
leider Gottes gibt, als das Unvorauszuberechnende, als das 
Zufällige, wenn Sie wollen, werden seine Genialität, sein 
Planen und Handeln nachträglich um so schmerzlicher ad 
absurdum geführt, als dies vorher der Fall war, da er nach der 
Meinung der Kasernen Straße irrte: Nichts ist grausamer als ein 
Genie, das über etwas Idiotisches stolpert. Doch hängt bei 
einem solchen Vorkommnis alles davon ab, wie sich nun das 
Genie zu dem Lächerlichen stellt, über das es fiel, ob es dieses 
hinnehmen kann oder nicht. Matthäi konnte es nicht 
akzeptieren. Er wollte, daß seine Rechnung auch in der 
Wirklichkeit aufgehe. Er mußte daher die Wirklichkeit 
verleugnen und im Leeren münden. So endet denn meine 
Erzählung auf eine besonders triste Weise, es ist eigentlich 
geradezu die banalste aller möglichen »Lösungen« eingetreten. 
Nun, das gibt es eben bisweilen. Das Schlimmste trifft auch 
manchmal zu. Wir sind Männer, haben damit zu rechnen, uns 
dagegen zu wappnen und uns vor allem klar darüber zu 
werden, daß wir am Absurden, welches sich notwendigerweise 
immer deutlicher und mächtiger zeigt, nur dann nicht scheitern 
und uns einigermaßen wohnlich auf dieser Erde einrichten 
werden, wenn wir es demütig in unser Denken einkalkulieren. 
Unser Verstand erhellt die Welt nur notdürftig. In der 
Zwielichtzone seiner Grenze siedelt sich alles Paradoxe an. 
Hüten wir uns davor, diese Gespenster »an sich« zu nehmen, 
als ob sie außerhalb des menschlichen Geistes angesiedelt 
wären, oder, noch schlimmer: Begehen wir nicht den Irrtum, sie 
als einen vermeidbaren Fehler zu betrachten, der uns verführen 
könnte, die Welt in einer Art trotziger Moral hinzurichten, 
unternähmen wir den Versuch, ein fehlerloses Vernunftsgebilde 
durchzusetzen, denn gerade seine fehlerlose Vollkommenheit 
wäre seine tödliche Lüge und ein Zeichen der schrecklichsten 
Blindheit. Doch mir verzeihen Sie, daß ich diesen Kommentar 
mitten in meine schöne Geschichte setze, denkerisch nicht 
stubenrein, ich weiß, doch müssen Sie es einem alten Manne 
wie mir schon gönnen, sich Gedanken über das zu machen, 
was er erlebte, mögen diese Gedanken noch so unfertig sein. 


- 101 - 


aber auch wenn ich von der Polizei herkomme, ich bemühe 
mich schließlich doch, ein Mensch zu sein und kein Ochse. 

Nun, es war voriges Jahr und natürlich wieder an einem 
Sonntag, als ich auf den Anruf eines katholischen Geistlichen 
hin einen Besuch im Kantonsspital zu machen hatte. Ich stand 
kurz vor meiner Pensionierung, in den letzten Tagen meiner 
Amtstätigkeit, eigentlich war schon mein Nachfolger in Betrieb, 
nicht Henzi, der es zum Glück nicht schaffte, trotz seiner 
Hottinger, sondern ein Mann von Format und Genauigkeit, 
begabt mit einer zivilen Menschlichkeit, die dem Posten nur 
wohltun konnte. Der Anruf hatte mich in meiner Wohnung 
erreicht. Ich kam der Aufforderung nur nach, weil es sich um 
etwas Wichtiges handeln sollte, das mir eine Sterbende 
mitzuteilen wünschte, was ja hin und wieder vorkommt. Es war 
ein sonniger, aber kalter Dezembertag. Alles kahl, wehmütig, 
melancholisch. Unsere Stadt kann in solchen Momenten zum 
Heulen sein. Eine Sterbende zu sehen, war deshalb eine 
doppelte Zumutung. Ich ging daher auch einige Male ziemlich 
trübsinnig um Aeschbachers Harfe im Park herum, spazierte 
aber schließlich doch ins Gebäude. Frau Schrott, medizinische 
Klinik, Privatabteilung. Das Krankenzimmer ging gegen den 
Park. Es war voller Blumen, Rosen, Gladiolen. Die Vorhänge 
waren halb gezogen. Schräge Sonnenstrahlen fielen auf den 
Fußboden. Am Fenster saß ein gewaltiger Priester mit einem 
derben roten Gesicht und einem grauen ungepflegten Bart, und 
im Bett lag ein Frauchen, alt, fein verrunzelt, die Haare dünn 
und schlohweiß, ungemein sanft, offenbar schwerreich, nach 
dem Aufwand zu schließen. Neben dem Bett stand ein 
komplizierter Apparat, irgendeine medizinische Apparatur, zu 
der verschiedene Schläuche führten, die unter der Bettdecke 
hervorkamen. Die Maschine mußte immer wieder von einer 
Krankenschwester kontrolliert werden. Die Schwester betrat in 
regelmäßigen Abständen das Krankenzimmer schweigend und 
aufmerksam, wodurch das Gespräch in fast gleichmäßigen 
Intervallen unterbrochen wurde - um diesen Umstand gleich zu 
Beginn anzuführen. 


- 102 - 


Ich grüßte. Die alte Dame schaute mich aufmerksam und 
äußerst ruhig an. Ihr Gesicht war wächsern, unwirklich, doch 
noch merkwürdig lebhaft. In den gelblichen verrunzelten 
Händen hielt sie zwar ein kleines schwarzes Büchlein mit 
Goldschnitt, offensichtlich ein Gebetbuch, doch war es kaum 
glaublich, daß diese Frau bald sterben mußte, so vital, so 
ungebrochen schien die Kraft, die von ihr ausging, trotz aller 
Schläuche, die unter ihrer Bettdecke hervorkrochen. Der Pfarrer 
blieb sitzen. Er wies mit einer ebenso majestätischen wie 
unbeholfenen Handbewegung auf einen Stuhl neben dem Bett. 

»Setzen Sie sich«, forderte er mich auf, und als ich Platz 
genommen hatte, kam seine tiefe Stimme aufs neue vom 
Fenster her, vor dem er sich als mächtige Silhouette auftürmte: 
»Erzählen Sie dem Herrn Kommandant, was Sie zu berichten 
haben, Frau Schrott. Um elf müssen wir dann die Letzte Ölung 
vornehmen.« 

Frau Schrott lächelte. Es tue ihr leid, daß sie mir 
Ungelegenheiten bereite, äußerte sie charmant, und ihre 
Stimme war zwar leise, aber noch äußerst deutlich, ja geradezu 
munter. 

Ich log, das mache mir nichts aus, nun überzeugt, das alte 
Mütterchen werde mir irgendeine Stiftung für notleidende 
Polizisten oder etwas Ähnliches ankündigen. 

Es sei eine an sich unwichtige und harmlose Geschichte, die 
sie mir zu berichten habe, fuhr die Alte fort, eine Begebenheit, 
die sich wahrscheinlich in allen Familien ein oder mehrere Male 
ereigne, und deshalb sei sie ihr auch aus dem Sinn gekommen, 
doch jetzt, wie es nun eben sein müsse, weil die Ewigkeit 
heranrücke, sei sie während ihrer Generalbeichte darauf zu 
reden gekommen, rein zufällig, weil gerade vorher eine Enkelin 
ihres einzigen Patenkindes gekommen sei mit Blumen und 
dabei ein rotes Röcklein getragen habe, und Pfarrer Beck sei 
ganz aufgeregt geworden und habe gemeint, sie solle die 
Geschichte mir erzählen, sie wisse wirklich nicht, warum, es sei 
ja alles vorbei, aber wenn Hochwürden meine ... 


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»Erzählen Sie, Frau Schrott«, kann die tiefe Stinnnne vonn 
Fenster her, »erzählen Sie.« Und in der Stadt begannen die 
Kirchenglocken die Predigt auszuläuten, es tönte dumpf und 
fern. Nun, sie wolle es versuchen, nahm die Greisin einen 
neuen Anlauf, begann zu plappern. Sie habe schon lange keine 
Geschichten mehr erzählt, nur dem Emil, ihrem Sohne von 
ihrem ersten Mann, aber dann sei der Emil ja gestorben an der 
Auszehrung, es sei nichts mehr zu machen gewesen. Er wäre 
nun so alt wie ich, oder besser wie der Herr Pfarrer Beck; aber 
sie wolle sich nun vorstellen, ich sei ihr Sohn und der Herr 
Pfarrer Beck auch, denn gleich nach dem Emil habe sie den 
Markus geboren, doch der sei nach drei Tagen gestorben, 
Frühgeburt, schon nach sechs Monaten sei er zur Welt 
gekommen, und Doktor Hobler habe gemeint, dies sei am 
besten für das arme Ding gewesen. Und so ging das konfuse 
Gerede eine Weile weiter. 

»Erzählen Sie, Frau Schrott, erzählen Sie«, mahnte der Pfarrer 
mit seinem Baß, unbeweglich vor dem Fenster sitzend, nur hin 
und wieder mit der Rechten wie ein Moses durch seinen wilden 
grauen Bart streichend, auch in lauen Wellen einen deutlichen 
Knoblauchgeruch verbreitend. »Wir müssen bald zur Letzten 
Ölung schreiten!« 

Nun wurde sie auf einmal stolz und geradezu aristokratisch, 
richtete ihr Köpflein sogar ein wenig auf, und ihre Äuglein 
blitzten. Sie sei eine Stänzli, sagte sie, ihr Großvater sei Oberst 
Stänzli gewesen, der im Sonderbundskrieg den Rückzug auf 
Escholzmatt durchgeführt habe, und ihre Schwester habe den 
Oberst Stüssi geheiratet, den Zürcher Generalstäbler im Ersten 
Weltkrieg, welcher der Duzfreund General Ulrich Willes 
gewesen sei und den Kaiser Wilhelm persönlich gekannt habe, 
das werde ich wohl noch wissen. 

»Natürlich«, antwortete ich gelangweilt, »selbstverständlich.« 
Was ging mich der alte Wille an und der Kaiser Wilhelm, dachte 
ich, rück nun heraus mit deiner Stiftung, Alte. Wenn man nur 
rauchen könnte, eine kleine Suerdieck wäre nun das richtige, 
etwas Urwaldluft in diese Spitalatmosphäre und in diesen 


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Knoblauchduft hineinzublasen. Und der Pfarrer orgelte 
hartnäckig, unermüdlich: »Erzählen, Frau Schrott, erzählen.« 

Ich müsse wissen, fuhr die alte Dame fort, und ihr Gesicht hatte 
nun einen seltsam verbissenen, ja geradezu haßerfüllten 
Ausdruck angenommen, ihre Schwester mit ihrem Oberst 
Stüssi sei an allem schuld gewesen. Ihre Schwester sei zehn 
Jahre älter als sie, jetzt neunundneunzig und schon bald vierzig 
Jahre Witwe, Villa auf dem Zürcherberg, Aktien bei Brown- 
Boveri, in der halben Bahnhofstraße habe sie ihre Hände; und 
dann brach auf einmal ein trüber Strom, oder besser, eine 
unflätige Kaskade von Schimpfwörtern aus dem Munde des 
sterbenden Mütterchens, die ich gar nicht wiederzugeben 
wage. Gleichzeitig richtete sich die Alte ein wenig auf, und ihr 
kleiner Greisenkopf mit den schlohweißen Haaren wackelte 
lebenslustig hin und her, wie irrsinnig vor Freude und Lust über 
ihren Wutausbruch. Dann aber beruhigte sie sich wieder, weil 
nun zum Glück die Krankenschwester kam, nana, Frau Schrott, 
regen Sie sich nicht auf, schön ruhig bleiben. Die Greisin 
gehorchte, machte eine schwache Handbewegung, als wir 
wieder allein waren. All die Blumen, sagte sie, schicke ihre 
Schwester nur, um sie zu ärgern, ihre Schwester wisse genau, 
daß sie Blumen nicht möge, sie hasse unnütze Geldausgaben; 
aber Streit hätten sie nie gehabt, wie ich wohl jetzt dächte, sie 
seien immer nett und lieb zueinander gewesen, aus lauter 
Boshaftigkeit natürlich; alle Stänzlis hätten diesen höflichen 
Zug, wenn sie sich untereinander auch nie leiden könnten, und 
ihre Höflichkeit sei nur die Methode, mit der sie sich gegenseitig 
quälten und bis aufs Blut folterten, zum Glück, sonst wäre die 
Hölle los gewesen, wenn sie keine so disziplinierte Familie 
gewesen wären. 

»Erzählen, Frau Schrott«, mahnte zur Abwechslung der 
Priester wieder einmal, »die Letzte Ölung wartet.« Und ich 
wünschte nun schon statt der kleinen Suerdieck eine meiner 
großen Bahianos herbei. 

Sie habe Anno fünfundneunzig den lieben seligen Galuser 
geheiratet, plätscherte der Redestrom endlos weiter, einen 
Doktor med. in Chur. Schon das sei der Schwester mit ihrem 


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Oberst nicht recht gewesen und nicht nobel genug, das habe 
sie genau gespürt, und als der Oberst an der Grippe gestorben 
sei, gleich nach dem Ersten Weltkrieg, sei die Schwester immer 
unausstehlicher geworden und habe mit ihrem Militaristen einen 
wahren Kult getrieben. 

»Erzählen, Frau Schrott, erzählen Sie«, ließ der Priester nicht 
locker, aber in keiner Weise ungeduldig, höchstens daß eine 
leise Trauer über so viel Verwirrung fühlbar war, während ich 
vor mich hin dämmerte und manchmal wie aus einem 
Schlummer hochschrak, »denken Sie an die Letzte Ölung, 
erzählen, erzählen.« Es war nichts zu machen, das Weiblein 
plapperte weiter auf seinem Totenbett, unermüdlich, 
redegewaltig, trotz seiner piepsenden Stimme und den 
Schläuchen unter der Bettdecke, kam vom Hundertsten ins 
Tausendste. Ich erwartete vage, soweit ich überhaupt noch 
denken konnte, eine nichtssagende Geschichte von einem 
hilfsbereiten Polizisten, dann die Ankündigung einer Stiftung 
von einigen tausend Franken, um die neunundneunzig-jährige 
Schwester zu ärgern, bereitete meinen warmen Dank vor und 
sehnte mich, meine unrealistischen Raucherwünsche 
entschlossen unterdrückend, um nicht ganz und gar zu 
verzweifeln, nach dem gewohnten Aperitif und dem 
traditionellen Sonntagsessen in der »Kronenhalle« mit meiner 
Frau und meiner Tochter. Dann habe sie, plauderte die Greisin 
unterdessen ungefähr weiter, eben nach dem Tode ihres 
Mannes, des seligen Galusers, den nun auch seligen Schrott 
geheiratet, der bei ihnen so etwas wie ein Chauffeur und 
Gärtner gewesen sei, überhaupt alle Arbeiten erledigt habe, die 
in einem großen alten Hause am besten von Männern erledigt 
würden, wie heizen, Fensterläden reparieren und so weiter, und 
wenn ihre Schwester auch nichts dazu bemerkt habe, ja sogar 
zur Hochzeit nach Chur gekommen sei, geärgert habe sie sich 
über diese Heirat, das wisse sie bestimmt, wenn die Schwester 
auch wieder, um sie eben zu ärgern, nichts habe merken 
lassen. Und so sei sie denn Frau Schrott geworden. 

Sie seufzte. Draußen, irgendwo im Korridor, sangen die 
Krankenschwestern. Adventslieder. »Nun, es war eine recht 


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harmonische Ehe mit dem lieben Seligen«, fuhr das Mütterchen 
fort, nachdem es dem Gesang einige Takte lang zugehört hatte, 
»wenn es auch für ihn vielleicht schwieriger war, als ich dies mir 
so vorstellen kann. Albertchen selig war dreiundzwanzig, als wir 
heirateten - war er doch gerade um neunzehnhundert geboren - 
und ich schon fünfundfünfzig. Aber es war sicher das beste für 
ihn, er war ja eine Waise; die Mutter war, ich will gar nicht 
sagen, was gewesen, und den Vater hat niemand gekannt, 
nicht einmal den Namen. Mein erster Mann hat ihn seinerzeit 
als Sechzehnjährigen aufgenommen, in der Schule haperte es 
mehr als nötig, er hatte es immer schwer mit Schreiben und 
Lesen. Die Heirat war einfach die sauberste Lösung, man 
kommt ja so leicht ins Gerede als Witwe, wenn ich auch nie 
etwas mit Albertchen selig hatte, auch in der Ehe nicht, das 
versteht sich ja bei dem Altersunterschied; aber mein 
Vermögen war knapp, ich mußte haushalten, um mit den 
Zinsen meiner Häuser in Zürich und Chur durchzukommen; 
aber was wollte Albertchen selig mit seinen beschränkten 
Geistesmitteln im harten Lebenskampf draußen. Er wäre 
verloren gewesen, und man ist als Christ verpflichtet. So lebten 
wir eben in Ehren zusammen; er hantierte im Haus und im 
Garten herum, ein stattlicher Mann, muß ich rühmen, groß und 
fest, immer würdig und feierlich gekleidet; ich brauchte mich 
seiner nicht zu schämen, wenn er auch fast nichts redete außer 
etwa >jawohl, Mutti, selbstverständlich, Mutti<, aber folgsam 
war er und mäßig im Trinken, nur essen tat er gern, besonders 
Nudeln, überhaupt alle Teigwaren und Schokolade. Die war 
seine Leidenschaft. Aber sonst war er ein braver Mann und ist 
es sein Leben lang auch geblieben, bei weitem netter und 
gehorsamer als der Chauffeur, den meine Schwester vier Jahre 
später geheiratet hat, trotz ihrem Oberst, und der auch erst 
dreißig war.« 

»Erzählen, Frau Schrott«, wehte die Stimme des Priesters in 
gleichgültiger Unerbittlichkeit vom Fenster her, als das 
Mütterchen nun eine Zeitlang schwieg, wohl doch etwas 
erschöpft, während ich immer noch treuherzig der Stiftung für 
arme Polizisten harrte. 


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Frau Schrott nickte. »Sehen Sie, Herr Kommandant«, erzählte 
sie, »doch in den vierziger Jahren ging es mit Albertchen selig 
allmählich bergab, ich weiß nicht recht, was ihm eigentlich 
fehlte, aber es muß etwas in seinem Kopf schadhaft geworden 
sein; er wurde immer stumpfer und stiller, stierte vor sich hin 
und redete oft tagelang nichts, tat nur seine Arbeit, wie es sich 
gehörte, so daß ich nicht ausdrücklich schimpfen mußte, doch 
fuhr er stundenlang mit seinem Velo herum, vielleicht, daß ihn 
der Krieg verwirrte oder der Umstand, daß sie ihn nicht ins 
Militär genommen hatten; was weiß unsereiner, was so in 
einem Manne vor sich geht! Dazu wurde er immer gefräßiger; 
zum Glück hatten wir unsere Hühner und unsere 
Kaninchenzucht. Und da hat sich denn mit Albertchen selig das 
zugetragen, was ich Ihnen erzählen soll, das erstemal gegen 
Ende des Krieges.« 

Sie schwieg, weil wieder einmal die Schwester und ein Arzt das 
Krankenzimmer betreten hatten, die sich teils hinter die 
Apparaturen, teils hinter das Mütterchen machten. Der 
Mediziner war ein Deutscher, blond, wie aus dem Bilderbuch, 
fröhlich, forsch, auf seiner Routinetour als Arzt vom 
Sonntagsdienst, wie geht's, Frau Schrott, immer tapfer, haben 
ja ausgezeichnete Resultate, staune, staune, nur nicht schlapp 
machen; dann wandelte er von dannen, die Schwester folgte 
ihm, und der Priester mahnte: »Erzählen, Frau Schrott, 
erzählen, um elf Letzte Ölung«, eine Aussicht, die das Weiblein 
nicht im geringsten zu beunruhigen schien. 

»Er hatte jede Woche Eier nach Zürich zu meiner 
Militaristenschwester zu bringen«, begann die Greisin vielmehr 
von neuem, »der arme Albertchen selig, er band dann das 
Körbchen hinten aufs Velo und kam gegen Abend zurück, weil 
er schon früh aufbrach, gegen sechs oder fünf, immer feierlich 
schwarz gekleidet mit einem runden Hut. Alle grüßten 
freundlich, wenn er durch Chur pedalte und dann zum 
Städtchen hinaus, vor sich hin pfeifend, sein Lieblingslied, ich 
bin ein Schweizerknabe und hab die Heimat lieb. Es war 
diesmal ein heißer Tag im Hochsommer, zwei Tage nach der 
Bundesfeier, und es wurde denn auch über Mitternacht, bis er 


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nach Hause kann. Ich hörte ihn lange hantieren und sich 
waschen im Badezimmer, ging hinüber, sah, daß alles voll Blut 
war bei Albertchen selig, auch die Kleider. Mein Gott, 
Albertchen, fragte ich, was ist dir denn zugestoßen? Er glotzte 
nur, sagte dann, Unfall, Mutti, wird schon werden, geh schlafen, 
Mutti, und so ging ich schlafen, wenn ich auch verwundert war, 
weil ich gar keine Wunden gesehen hatte. Aber am Morgen, als 
wir am Tische saßen und er seine Eier aß, immer vier auf 
einmal, und seine Brotschnitten mit Marmelade, las ich in der 
Zeitung, daß man im Sankt Gallischen ein kleines Mädchen 
ermordet habe, wahrscheinlich mit einem Rasiermesser, und da 
kam es mir in den Sinn, daß er ja gestern nachts im 
Badezimmer auch sein Rasiermesser gereinigt hatte, obschon 
er sich doch immer am Morgen rasierte, und da ging es mir auf 
einmal auf, wie eine Erleuchtung, und ich wurde ganz ernst mit 
dem Albertchen selig und sagte, Albertchen, nicht wahr, du hast 
das Mädchen getötet im Kanton Sankt Gallen. Da hörte er auf 
mit Eier essen und Marmeladeschnitten und Salzgurken und 
sagte, jawohl, Mutti, es mußte sein, es war eine Stimme vom 
Himmel, und dann aß er weiter. Ich war ganz verwirrt, daß er so 
krank war; das Mädchen tat mir leid, ich habe auch daran 
gedacht, den Doktor Sichler anzurufen, nicht den alten, sondern 
seinen Sohn, der auch sehr tüchtig ist und mitfühlend; aber 
dann dachte ich an meine Schwester, die hätte ja frohlockt, ihr 
schönster Tag wäre es geworden, und so bin ich eben ganz 
streng und entschlossen mit Albertchen selig gewesen und 
sagte ausdrücklich, das darf nie, nie, nie mehr verkommen, und 
er sagte, jawohl, Mutti. Wie ist es denn gekommen, fragte ich. 
Mutti, sagte er, ich habe immer ein Mädchen getroffen mit 
einem roten Röcklein und blonden Zöpfen, wenn ich über 
Wattwil nach Zürich gefahren bin, ein großer Umweg, aber seit 
ich das Mädchen kennengelernt habe, nahe bei einem 
Wäldchen, habe ich den Umweg immer machen müssen, die 
Stimme vom Himmel, Mutti, und die Stimme hat mir befohlen, 
mit dem Kind zu spielen, und dann hat die Stimme vom Himmel 
mir befohlen, ihm von meiner Schokolade zu geben, und dann 
mußte ich das Mädchen töten, alles die Stimme vom Himmel, 
Mutti, und dann bin ich in den nächsten Wald und habe unter 


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einem Strauch gelegen, bis es Nacht geworden ist, und dann 
bin ich zurückgekommen zu dir, Mutti. Albertchen, sagte ich, du 
radelst jetzt nicht mehr mit dem Velo zu meiner Schwester, die 
Eier schicken wir mit der Post. Jawohl, Mutti, sagte er, strich 
sich noch ein Stück Brot mit Marmelade voll und ging in den 
Hof. Nun muß ich wohl doch zum Pfarrer Beck gehen, dachte 
ich, damit er sehr streng mit Albertchen selig rede, aber als ich 
zum Fenster hinausschaue und sehe, wie im Sonnenschein 
draußen Albertchen selig so treu seine Pflicht tut und ganz still 
und ein bißchen traurig am Kaninchenstall herumflickt und wie 
der ganze Hof blitzsauber ist, denk" ich, was geschehen ist, ist 
geschehen, Albertchen ist ein braver Mensch, herzensgut im 
Grunde, und es wird ja auch nicht wieder verkommen.« 

Nun kam abermals die Krankenschwester ins Zimmer, 
untersuchte die Apparatur, ordnete die Schläuche, und das 
Mütterchen in den Kissen schien aufs neue erschöpft. Ich 
wagte kaum zu atmen, der Schweiß lief mir übers Gesicht, 
ohne daß ich darauf achtete; ich fror auf einmal und kam mir 
doppelt lächerlich vor, wenn ich daran dachte, daß ich von der 
Alten eine Stiftung erwartet hatte, dazu die Unmenge Blumen, 
all die roten und weißen Rosen, die flammenden Gladiolen, 
Astern, Zinnien, Nelken, weiß Gott woher angeschafft, eine 
ganze Vase voller Orchideen, unsinnig, protzig, die Sonne 
hinter den Vorhängen, der unbewegliche massige Priester, der 
Knoblauchduft; ich hätte plötzlich toben mögen, das Weib 
verhaften, aber alles hatte keinen Sinn mehr, die Letzte Ölung 
stand bevor, und ich saß da in meinen Sonntagskleidern, 
feierlich und unnütz. 

»Erzählen Sie weiter, Frau Schrott«, mahnte der Priester 
geduldig, »erzählen Sie weiter.« Und sie erzählte weiter. »So 
ging es denn auch wirklich besser mit dem Albertchen selig«, 
führte sie mit ihrer ruhigen, sanften Stimme aus, und es war 
nun wirklich, als erzählte sie zwei Kindern ein Märchen, in dem 
ja auch das Böse und das Absurde geschieht als etwas ebenso 
Wunderbares wie das Gute, »er fuhr nicht mehr nach Zürich; 
aber als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, konnten wir wieder 
unser Auto gebrauchen, das ich Anno achtunddreißig gekauft 


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hatte, weil der Wagen des seligen Galuser wirklich aus der 
Mode gekommen war, und so fuhr Albertchen selig mich denn 
wieder in unserem Buick herum. Wir fuhren sogar einmal nach 
Ascona ins Tamaro, und da dachte ich, weil ihm das Fahren 
doch so Freude machte, er könne doch wieder nach Zürich, mit 
dem Buick sei es ja nicht so gefährlich, da müsse er 
aufmerksam fahren und könne keine Stimme vom Himmel 
hören, und so führ er denn wieder zur Schwester und lieferte 
die Eier ab, getreu und brav, wie es seine Art war, und 
manchmal auch ein Kaninchen. Aber auf einmal ist er dann 
leider wieder erst nach Mitternacht heimgekommen; ich bin 
sofort in die Garage gegangen, ich habe es gleich geahnt, weil 
er plötzlich immer wieder Trüffeln aus der Bonbonniere 
genommen hatte die letzte Zeit, und wirklich fand ich den 
Albertchen selig, wie er das Innere des Wagens wusch, und 
alles war voll Blut. Hast du wieder ein Mädchen getötet, 
Albertchen, sagte ich und wurde ganz ernst. Mutti, sagte er, 
beruhige dich, nicht im Kanton Sankt Gallen, im Kanton 
Schwyz, die Stimme vom Himmel hat es so gewollt, das 
Mädchen hatte wieder ein rotes Röcklein an und gelbe Zöpfe. 
Aber ich habe mich nicht beruhigt, ich war noch strenger mit 
ihm als das erstemal; ich wurde fast böse. Er durfte den Buick 
eine Woche nicht benützen, ich wollte auch zu Hochwürden 
Beck gehen, ich war entschlossen; aber die Schwester hätte zu 
sehr jubiliert, das ging nicht, und so habe ich Albertchen selig 
eben noch strenger bewacht, und dann ging es zwei Jahre 
wirklich gut, bis er es noch einmal tat, weil er der Stimme vom 
Himmel gehorchen mußte, Albertchen selig, er war ganz 
geknickt und hat geweint, aber ich habe es gleich bemerkt an 
den fehlenden Trüffeln aus der Bonbonniere. Es war ein 
Mädchen im Kanton Zürich gewesen, auch mit einem roten 
Röcklein und gelben Zöpfen, nicht zu glauben, wie unvorsichtig 
die Mütter ihre Kinder kleiden.« 

»Hieß das Mädchen Gritli Moser?« fragte ich. »Es ließ Gritli, 
und die vorigen hießen Sonja und Eveli«, antwortete die alte 
Dame. »Ich habe mir die Namen alle gemerkt; aber dem 
Albertchen selig ist es immer schlechter gegangen, er begann 


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flüchtig zu werden, ich nnußte ihm alles zehnmal sagen, ich 
mußte den ganzen Tag mit ihm schimpfen wie mit einem Bub, 
und es war im Jahre neunundvierzig oder fünfzig, so genau 
erinnere ich mich nicht mehr, wenige Monate nach dem Gritli, 
da ist er wieder unruhig geworden und fahrig; sogar der 
Hühnerstall war in Unordnung, und wie wild haben die Hühner 
gegackert, weil er auch das Futter nicht mehr ordentlich 
zubereitete, und immer aufs neue fuhr er herum mit unserem 
Buick, ganze Nachmittage lang, sagte nur, er gehe bummeln, 
und auf einmal merkte ich, daß wieder Trüffel fehlten in der 
Bonbonniere. Da habe ich ihm aufgelauert, und als er sich ins 
Wohnzimmer schlich, Albertchen selig, das Rasiermesser wie 
einen Füllfederhalter eingesteckt, bin ich zu ihm gegangen und 
habe ihm gesagt: Albertchen, du hast wieder ein Mädchen 
gefunden. Die Stimme vom Himmel, Mutti, hat er geantwortet, 
bitte laß mich nur noch dieses Mal, was befohlen ist vom 
Himmel, ist befohlen, und ein rotes Röcklein hat es auch und 
gelbe Zöpfe. Albertchen, sagte ich streng, das kann ich nicht 
zulassen, wo ist das Mädchen? Nicht weit von hier, bei einer 
Tankstelle, sagte Albertchen selig, bitte, bitte, Mutti, laß mich 
gehorchen. Da wurde ich energisch, es gibt nichts, Albertchen, 
habe ich gesagt, du hast es mir versprochen, reinige auf der 
Stelle den Hühnerstall und gib den Hühnern ordentlich zu 
fressen. Da ist Albertchen selig zornig geworden, das erstemal 
in unserer Ehe, die doch sonst so harmonisch war, hat 
geschrien, ich bin nur dein Hausknecht, so krank war er, und ist 
hinausgerannt mit den Trüffeln und dem Rasiermesser zum 
Buick, und schon eine Viertelstunde später hat man mir 
telephoniert, er sei mit einem Lastwagen zusammengestoßen 
und gestorben. Hochwürden Beck kam und Polizeiwachtmeister 
Bühler, der war besonders feinfühlend, weshalb ich denn auch 
der Churer Polizei im Testament fünftausend Franken vermacht 
habe, und fünftausend vermachte ich der Zürcher Polizei, weil 
ich ja hier Häuser habe in der Freiestraße, und natürlich ist 
auch meine Schwester gekommen mit ihrem Chauffeur, um 
mich zu ärgern, sie hat mir die ganze Beerdigung verdorben.« 


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Ich starrte die Alte an. Nun war auch glücklich die Stiftung 
gekommen, auf die ich immer gewartet hatte. Es war, als ob ich 
noch besonders verhöhnt werden sollte. 

Doch nun kam endlich der Professor mit einem Arzt und zwei 
Schwestern; wir wurden hinausgeschickt, und ich 
verabschiedete mich von Frau Schrott. 

»Leben Sie wohl«, sagte ich verlegen und gedankenlos, nur 
den Wunsch im Kopf, so schnell wie möglich wegzukommen, 
worauf sie zu kichern begann und der Professor mich 
eigentümlich musterte; die Szene war peinlich; ich war froh, die 
Alte, den Priester, die ganze Versammlung endlich zu 
verlassen, gelangte in den Korridor. 

Überall tauchten Besucher auf mit Paketen und Blumen, und es 
roch nach Krankenhaus. Ich flüchtete. Der Ausgang war nah, 
ich wähnte mich schon im Park. Doch da schob ein gewaltiger, 
feierlich dunkel gekleideter Mann mit rundem Kindergesicht und 
Hut auf einem Rollstuhl ein verrunzeltes, zittriges Weiblein den 
Korridor entlang. Die Uralte war in einem Nerzmantel, hielt in 
beiden Armen Blumen, Riesenbündel. Vielleicht war dies die 
neunundneunzigjährige Schwester mit ihrem Chauffeur, was 
wußte ich, schaute ihnen entsetzt nach, bis sie in der 
Privatabteilung verschwanden, begann dann beinahe zu 
rennen, stürmte hinaus und durch den Park, an Kranken auf 
Rollstühlen, an Genesenden, an Besuchern vorbei, und 
beruhigte mich erst in der »Kronenhalle« ein wenig. Bei der 
Leberknödelsuppe. 

Ich fuhr gleich von der »Kronenhalle« nach Chur. Leider mußte 
ich meine Frau und meine Tochter mitnehmen, es war Sonntag, 
ich hatte ihnen den Nachmittag versprochen, und Erklärungen 
wollte ich nicht abgeben. Ich sprach kein Wort, fuhr in einem 
polizeiwidrigen Tempo, vielleicht war noch etwas zu retten. 
Doch hatte meine Familie im Wagen vor der Tankstelle nicht 
lange zu warten. In der Schenke war ein wilder Betrieb, 
Annemarie war gerade von Hindelbank zurückgekommen, es 
wimmelte von ziemlich üblen Burschen; Matthäi saß trotz der 
Kälte in seinem Monteuranzug auf seiner Bank, rauchte einen 
Stumpen, stank nach Absinth. Ich setzte mich zu ihm. 


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berichtete in kurzen Worten. Doch es war nichts mehr zu 
machen. Er schien mir nicht einmal zuzuhören, ich war einen 
Moment unschlüssig, ging dann zu meinem Opel Kapitän 
zurück und fuhr gegen Chur; die Familie war ungeduldig, hatte 
Hunger. 

»Ist das nicht Matthäi gewesen?« fragte meine Frau, die, wie 
gewohnt, nie im Bilde war. 

»Doch.« 

»Ich glaubte aber, der sei in Jordanien«, sagte sie. 

»Er ist nicht gereist, meine Liebe.« 

In Chur hatten wir Mühe mit dem Parkieren. Die Konfiserie war 
überfüllt, lauter Zürcher, die sich hier den Magen vollstopften, 
schwitzten, dazu Kinder, die schrien, aber wir fanden noch 
einen Platz, bestellten Tee und Gebäck. Doch rief meine Frau 
das Mädchen noch einmal zurück. 

»Fräulein, bringen Sie auch zweihundert Gramm Trüffeln.« 

Sie wunderte sich dann nur etwas, als ich davon nichts essen 
wollte. Um keinen Preis. 

Und nun, mein Herr, können Sie mit dieser Geschichte 
anfangen, was Sie wollen. Emma, die Rechnung. 


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Nachwort 

Der vorliegende Roman ist mit dem Film, der leider den Titel 
>Es geschah am hellichten Tag< führt, auf folgende Weise 
verknüpft: Im Frühjahr 1957 bestellte der Produzent Lazar 
Wechsler bei mir eine Filmerzählung. Thema: 
Sexualverbrechen an Kindern. Beabsichtigt war, vor dieser 
leider immer häufigeren Gefahr zu warnen. Ich lieferte eine 
Erzählung ab, eine Vorfassung des Romans, die ich später mit 
dem Regisseur des Filmes, Ladislao Vajda, zu einem Drehbuch 
verarbeitete, das sich zum größten Teil eng an die 
Filmerzählung hielt. Es liegt mir daran, hier festzuhalten, daß 
der Film meinen Intentionen im Wesentlichen entspricht, daß 
der Roman einen andern Weg gegangen ist, stellt keine Kritik 
an der hervorragenden Arbeit des Regisseurs dar. Der Grund 
liegt allein darin, daß ich mich nach der Fertigstellung des 
Drehbuches noch einmal an die Arbeit machte. Ich griff die 
Fabel aufs neue auf und dachte sie weiter, jenseits des 
Pädagogischen. Aus einem bestimmten Fall wurde der Fall des 
Detektivs, eine Kritik an einer der typischsten Gestalten des 
neunzehnten Jahrhunderts, und so schoß ich notgedrungen 
über das Ziel, das der Film, als eine Kollektivarbeit, sich setzen 
mußte. 

Dürren matt 


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